Dr. Sommer: In der BRAVO wäre mehr möglich gewesen!
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Der Aufklärer der deutschen Jugend: Dr. Sommer (alias Dr. Martin Goldstein) ist heute 83 Jahre alt |
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Martin Goldstein hat 14 Jahre lang die Sexualaufklärung bei Deutschlands großer Jugendzeitung verantwortet. Ein Interview.
Von Erwin In het Panhuis
Sie haben 1969 die Sexualaufklärung bei der BRAVO übernommen. Sind Sie ein typischer 68er?
Nein, überhaupt nicht. Ich verkörpere zwar eine neue, freiere Sexualaufklärung in der BRAVO - aber ich war nicht politisch aktiv. Ich war nur ein introvertierter Sozialpädagoge, der an seinem
Schreibtisch und in der Beratungsstelle arbeitete. Durch meine berufliche und private Einbindung habe ich die gesamte politische Situation auch gar nicht so zur Kenntnis genommen. Ich gehörte zwar zu
denen, die die Freiheit in der Sexualität als Thema aufgegriffen haben, aber in einer ganz anderen Form als die typischen 68er. Die hielten zwar Sex für politisch, schlossen aber nur die genitale
Sexualität in ihre Forderungen ein. Die mit Sex verbundenen Gefühle wurden von ihnen als unpolitisch angesehen. Eine Offenheit auf emotionalem Gebiet war dort entsprechend nur sehr schwach vertreten.
Die 68er kommen aber bei mir dennoch gut weg, weil sie sexuell eine große Bresche geschlagen haben.
In Ihrem letzten Buch schreiben Sie, dass Ihre erste Liebe einem Jungen galt?
Ja, ich war damals in der 2. Klasse der Bielefelder Grundschule, als ich mich in einen Jungen verliebte, dem ich dann während des Unterrichts einen kleinen Liebesbrief schickte. Die Lehrerin fing
diesen Brief ab und las ihn der ganzen Klasse vor, was mich stark getroffen hat. So etwas kann man als Pädagogin einfach nicht machen. Es ist da zu keiner näheren Verbindung gekommen. Ich habe mich
auch nie verliebt in Jungs, mit denen ich alltäglich gespielt habe, aber andere, die ich kaum kannte, fing ich schnell zu bewundern an. Was das bedeutete, war mir aber noch unklar. Andere
gleichgeschlechtliche Erlebnisse von mir habe ich dann auch in einer Dr.-Korff-Geschichte niedergeschrieben, die später indiziert wurde.
Die 1972 in der BRAVO geschilderten Erlebnisse waren also Ihre eigenen?
Ja, die im Heft 7 geschilderten Erlebnisse des 12-jährigen Udo stammen von mir; das entsprechende Heft wurde kurze Zeit später zusammen mit dem Heft 6 indiziert. Ich kann mich noch erinnern, wie
einer aus unserer Klasse vor der ganzen Gruppe onanierte. Als er seinen Orgasmus hatte und es so schäumte, habe ich gedacht, das wäre eine Krankheit. Und ein älterer Schüler meinte nur: Das machen
Erwachsene, wenn die Kinder kriegen wollen. Das war es. Ich war still am Staunen und habe nichts verstanden. Und das spätere Erlebnis mit dem gemeinsamen Onanieren war halt so eine Wette, wer als
Erster zum Orgasmus kommt. Diese Erlebnisse hatten für mich aber keinen besonderen Rang und waren eher beiläufig. Ich würde das auch nicht als erste sexuelle Erfahrung ansehen. Die ersten sexuellen
Erfahrungen fangen im Babyalter an und begleiten einen durch das ganze Leben - nur in unterschiedlicher Form. Ich halte es für viel zu einseitig, wenn als sexuelle Erfahrungen nur der
Geschlechtsverkehr mit einem erigierten Glied in der Scheide angesehen wird.
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Unter den Leserbriefen, die "Dr. Sommer" beantwortet hat, waren auch immer wieder Fragen zu schwul-lesbischen Themen |
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Waren Sie bzw. die BRAVO-Redaktion von den Indizierungen überrascht?
Ja, total. Eigentlich hatte ich doch nur geschrieben, dass Onanieren weder krank noch schwul noch unfruchtbar macht und dass nicht nur Jugendliche, sondern auch Polizisten und Lehrerinnen onanieren.
Das hat dann aber vor allem Christa Meves, als Vorsitzende vom Lehrerinnenverband, auf die Barrikaden gebracht. Die ist ja auch eine erklärte Gegnerin der Schwulenbewegung und extra katholisch
geworden, weil ihr die Evangelen zu lau waren. Leider sind ja die Urteile der Bundesprüfstelle nicht revidierbar und man hat auch keine Möglichkeit, sie durch Gegengutachten zu Fall zu bringen.
Was die Redaktion in München anging, hab' ich nicht alles mitbekommen, weil ich als freier Mitarbeiter von Düsseldorf aus gearbeitet habe. Aber natürlich waren die besorgt, dass drei Hefte indiziert
werden, und das wäre tödlich gewesen. Dass zwei Hefte indiziert wurden, war ein deutlicher politischer Schuss vor den Bug. Der Chefredakteur hat aber ganz klar gesagt, dass ich so weiter arbeiten
soll wie vorher. Mein Chef von der Düsseldorfer Beratungsstelle hat das Gleiche gesagt. Ich hatte da starken Rückhalt - auch innerhalb der Evangelischen Kirche.
Gerade wegen Ihres Mutes, im Bereich der Sexualität eigentlich nichts zu tabuisieren, fallen bei näherer Betrachtung mehrere Themen ein, die Sie nie behandelten, wie z. B. die schwule bzw.
lesbische Szene, die Sexualpraktiken von Schwulen und Lesben oder der gesamte Bereich HIV/AIDS.
Eine für mich wahrnehmbare schwule Szene hat es einfach nicht gegeben. Bei den Anfragen von Jugendlichen nach Gleichgesinnten hätte ich ansonsten in BRAVO auch Adressen genannt. Unabhängig vom Thema
kommt man mit Gleichgesinnten immer am besten weiter, weil man da nicht geschwächt, sondern gestärkt wird. Es gibt da übrigens auch eine Parallele zu meinem Leben: Ich habe erst allmählich gelernt,
mit Schwulsein und Lesbischsein anders umzugehen. Und ausschlaggebend dafür waren nicht Bücher oder Studium, sondern der direkte Kontakt mit Schwulen und Lesben. Die Szene und auch die Bewegung waren
aber bei weitem nicht so präsent, wie Sie sich das vielleicht vorstellen oder wie sie es heute sind. Zu den wenigen Dingen, die ich in diesem Zusammenhang wahrnahm, gehörte neben der Reform des § 175
im Jahre 1969 der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Ich weiß noch, dass mich der Film sehr aufgewühlt hat. Eine unglaubliche Realsatire wie auch der
aktuelle Film Hape Kerkelings Isch kandidiere! Der Film brachte genau ins Bild, was ja eigentlich überhaupt nicht komisch oder seltsam war. Viele konnten jedoch mit diesem Film deshalb nichts
anfangen, weil er aus dem schwulen Blickwinkel gedreht war. Das war neu.
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Erwin In het Panhuis´ Buch "Aufklärung und Aufregung. 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO" erscheint Ende Juni |
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In BRAVO deutlich auf schwule und lesbische Sexualpraktiken einzugehen, wäre auch damals schon möglich gewesen. Aber auch ich musste erst mal lernen, eine gewisse Freiheit zu erlangen. Das müssen
Sie mir zugestehen. Zu dieser Zeit wollte ich das noch nicht - ich wollte eine bestimmte Grenze nicht überschreiten.
Über HIV/AIDS gab es schon kurz vor meinem Ausscheiden bei BRAVO viele öffentliche Berichte in den Zeitungen. Das war aber alles so widersprüchlich und ich musste mich erst einmal selbst orientieren.
Ich meine, dass ich HIV/AIDS an einigen Stellen erwähnt habe und dort Kondome empfohlen habe. Aber ich habe mich da zurückgehalten, weil das alles noch viel brenzliger war und weil das, was man
schrieb, gravierende Folgen haben konnte. Die Artikel, welche dann nach 1984 in BRAVO erschienen sind, habe ich dann allerdings sehr kritisch gesehen - aber das war ja schon nach meiner Zeit bei
BRAVO.
Ihre Erklärung zum Analverkehr im Liebeslexikon 1981/1982 ist mehr tabuisierend als erklärend. Das ist doch sehr untypisch für Sie?
Die genauen Hintergründe zu diesem Text, der unter meinem Pseudonym Dr. Korff erschien, weiß ich nicht mehr. Ich kann Ihnen aber die Hintergründe zu einem anderen Lexikon darlegen, das die Probleme
von einem solchen Text deutlich macht.
1973 erschien als BRAVO-Ableger ein eigenes Poster-Heft, für das ich ein Erotisches Lexikon verfasst hatte - unter meinem dritten Pseudonym Dr. Heinz Hoffmann. Zum Thema Analverkehr hatte ich dort
ursprünglich geschrieben, dass jede Körperöffnung erotisch, erregbar und lustbringend ist. Und das mit Analverkehr auch was erreicht werden kann, was man üblicherweise gar nicht erwartet. Und dann
wurde mein sorgfältig erarbeiteter und so scheu wie möglich formulierter Text nicht abgedruckt, nur weil er von Lust und erotischen Gefühlen handelte. Und im abgedruckten Text stand dann so gut wie
gar nichts mehr, und in der Überschrift - die nicht von mir kam - stand dann so was wie: Wie unanständig ist ein Po? Dieser redaktionelle Eingriff war und blieb einmalig. Diese Auseinandersetzung
hatte aber nichts mit schwul, sondern nur mit der Körperöffnung als solcher zu tun. Viele halten Analverkehr für schmutzig, aber das ist ein Rest aus der Sauberkeitserziehung! Manche kriegen doch
sogar einen Orgasmus, wenn man ihnen in den Ohren grabbelt. Ich halte es da persönlich mit Thomas von Aquin, den ich gerade studiere: Wir müssen unseren Körper mit der gleichen Liebe lieben, mit der
wir Gott lieben. Und von der Liebe zum Körper sollten dann auch keine Einzelteile ausgenommen werden.
Das Interview ist ein Auszug aus meinem Buch "Aufklärung und Aufregung. 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO" und erschien erstmals auf Queer.de.