St. Sebastian oder Die schwule Kunst zu leiden

Katalog zur Ausstellung im Centrum Schwule Geschichte, 1999

Die Texte der Ausstellungsbroschüre von 1999 wurden von Herbert Potthoff und mir verfasst und sind hier im Volltext wiedergegeben. Nur kleinere Schwarz-Weiß-Abbildungen konnten nicht übernommen werden. Das Titelbild der Broschüre zeigt eine Filmszene aus Sebastian (GB, 1976, Regie Derek Jarman). ____________________________________

Backcover-Text: Ein Sebastian-Gemälde in der eigenen Wohnung wurde früher von Schwulen oft als Signal für Gleichgesinnte eingesetzt. Thomas Mann bezieht sich in seiner Novelle Tod in Venedig konkret auf das Schicksal des hl. Sebastian und bei dem japanischen Autor Yukio Mishimo (Geständnis einer Maske) führte der Anblick eines Sebastian-Gemäldes zu einer lebenslangen Faszination (und zu seinem ersten Orgasmus. Das Thema Sebastian wurde von schwulen Regisseuren wie Derek Jarman verfilmt, von schwulen Künstlern wie Pierre et Gilles fotografiert und findet als Motiv in Schwulenzeitschriften der 90er Jahre immer noch Verwendung. Dieser Beitrag versucht dem Mythos Sebastian in seinen verschiedensten Aspekten näher zu kommen.

 

Inhaltsverzeichnis
Vorwort S. 5
1. „Wollen Seuchen zu uns schleichen, bitte, daß sie von uns weichen“
    St. Sebastian als Märtyrer und Schutzpatron S. 7
2. „Sollen einander die wahre rechte und christliche liebt beweisen“
    Schützengilden und Sebastiansbruderschaften S. 13
3. „Zu sündhaften Gedanken erregt“
    St. Sebastian in der Bildenden Kunst S. 15
4. „Aber dieser Schmerz ist so schön“
    St. Sebastian in der Literatur S. 25
5. „Schrei ich nach Liebe, die mich quäle“
    St. Sebastian in der Musik S. 36
6. „Leiden in Schönheit“
    St. Sebastian in Fotografie und Film S. 42
7. „Das getreue Abbild dieser unausrottbaren Liebe“
    St. Sebastian im Leben der Schwulen S. 48
Anhang
1. Auf der Suche nach Sebastian. Eine Erkundungstour durch Köln S. 57
2. Othmar Rahm-Kölling: Wie ich zum Sebastian-Sammler wurde S. 61
3. Günter Frorath: Sebastian als persönliches Erlebnis. Ein Interview S. 63
4. Peter Guckel: Sebastianus. Aus einer unveröffentlichten Erzählung S. 66
Literaturverzeichnis S. 68

Vorwort
Bei einer unserer letzten Ausstellungen machte ein Besucher den Vorschlag, doch
mal etwas zum hl. Sebastian zu machen. Sebastian?? Wir wußten zwar, daß er als
eine Art schwuler Heiliger oder als Heiliger der Schwulen gilt. Wir wußten auch, daß
man fast kein Kunstmuseum besuchen kann, ohne auf Sebastian-Darstellungen zu
stoßen. Manche der Bilder packen den Betrachter beim ersten Hinsehen: meist
zeigen sie einen (fast) nackten jungen Mann, vielleicht etwas feminin, gefesselt
seinen Henkern ausgeliefert – und wie schön er leidet! Man braucht nicht einmal
den berühmten homosexuellen Blick, der die Welt ja etwas anders wahrnimmt, um
berührt zu sein. Ausgeliefert, verlassen, allein fühlt man sich als Schwuler
manchmal auch. Aber reichen solche Gefühle, um daraus eine Ausstellung zu
machen? Die Frage wurde schnell beantwortet, als unser Besucher ein Angebot
hinzufügte: er könne den Kontakt zu einem Bekannten herstellen, der seit Jahren
den hl. Sebastian zu seinem Hobby gemacht und eine beträchtliche Sammlung
zusammengetragen habe. Das gab den Ausschlag - wir machten uns ans Werk.
Als schwierig und gleichzeitig faszinierend stellte sich bald heraus, daß es zu St.
Sebastian zwar einiges an Literatur gibt, schließlich war er lange genug volkstümlicher
Heiliger und tausendfach Gegenstand der Bildenden Kunst. Zu seiner
Bedeutung für die Schwulen finden sich jedoch kaum Vorarbeiten.
In den wenigen schwul-lesbischen Nachschlagewerken wird er, wenn überhaupt,
nur mit ein paar Zeilen erwähnt. Lediglich das, im übrigen hervorragende, Nachschlagewerk
zur schwulen und lesbischen Literatur The Gay and Lesbian literary
heritage1 widmet ihm einen umfangreicheren Eintrag. Karl Heinrich Ulrichs, einer
der Vorkämpfer für schwule Rechte, schrieb in seinen berühmten Forschungen
über das Räthsel der mannmännlichen Liebe (1864-1879) nichts über ihn. Magnus
Hirschfeld betonte zwar den Signalwert eines Sebastian-Gemäldes im homosexuellen
Alltag der Kaiserzeit - im Register zu seinem Hauptwerk Die Homosexualität
des Mannes und des Weibes (1914) taucht der Name Sebastian aber nicht auf.
Dieser Befund ist typisch: es gibt bis heute nur wenige Ansätze, sich dem Thema
„Sebastian und die Homosexuellen“ wissenschaftlich zu nähern. Dabei stößt man,
wenn es um schwules Leben oder schwule Kultur geht, immer wieder auf den schönen
Jüngling Sebastian, z. B. auf Fotos der Kitsch-Künstler Pierre et Gilles, in Derek
Jarmans Film Sebastiane oder auf dem Cover eines Bandes mit Erzählungen
des homosexuellen russischen Autors Charitonov – im letzten Fall, da ein Bezug
zum Inhalt des Buches fehlt, ganz offensichtlich als Hinweis „Achtung schwul!“ für
potentielle homosexuelle Käufer gedacht2.
Die erwähnten Ansätze zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas stammen
aus dem Umkreis der ersten deutschen Schwulenbewegung vor 19143 oder finden
sich in amerikanischen und niederländischen Publikationen nach 1970.4 Im
deutschsprachigen Raum widmete Andreas Sternweiler 1993 in seiner Untersuchung
zur Homosexualität in der italienischen Kunst vom 15. bis 17. Jahrhundert
der Darstellung des hl. Sebastian einige Seiten5, und die Grazer Schwulenzeitschrift
Rosalila Buschtrommel veröffentlichte 1996 einen Aufsatz von Hans-Peter
Weingand: St. Sebastian. Beiträge zur schwulen Ästhetik.6 Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema hat also gerade erst angefangen.
In der Ausstellung und in der Broschüre wollen wir das Thema Sebastian in seinen
verschiedenen Aspekten behandeln. Das kann keine tiefschürfende Analyse,
sondern nur eine erste Annäherung sein. Es geht um den historischen Sebastian,
den Heiligen und Schutzpatron, um die Behandlung des Sebastian-Motivs in der
Bildenden Kunst, in der Literatur, im Film, auf Fotos und auf der Bühne, schließlich
um die Bedeutung des hl. Sebastian für Schwule, schwule Kultur und
Schwulenbewegung. Um einen Einwand gleich vorwegzunehmen: wir wissen, daß
der Begriff „schwul“ in unsere Zeit gehört und ein gewisses Maß an
Selbstbewußtsein und Emanzipation beinhaltet. Da aber das, was heute erreicht ist,
vor hundert Jahren in Angriff genommen wurde, scheint es uns legitim, den Begriff
zumindest dann zu verwenden, wenn es um selbstbewußte Homosexuelle und um
ihren Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung geht.
Wir hoffen, daß es uns gelingt, Interesse für das faszinierenden Thema „Sebastian“
zu wecken und den einen oder anderen vielleicht sogar zu vertiefender
Beschäftigung damit anzuregen.

 

Danke

Abschließend möchten wir uns bei allen bedanken, ohne die diese Ausstellung
nicht zustande gekommen wäre: bei Othmar Rahm-Kölling, aus dessen Sammlung
die meisten Ausstellungsstücke stammen; bei Peter Guckel, der diese Ausstellung
anregte, uns mit seinen Kontakten unterstützte und uns Auszüge aus einer
unveröffentlichten Sebastian-Erzählung zum Abdruck überlassen hat; bei Günter
Frorath für seine Leihgaben und das Interview; bei Bavo Defurne aus Brüssel, der
die Mühe nicht gescheut hat, seinen Kurzfilm Saint persönlich vorzustellen; bei
Marita Keilson-Lauritz, Amsterdam, für Materialien aus frühen Homosexuellenzeitschriften;
bei der edition alectri für eine großzügige finanzielle Zuwendung; bei
der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln sowie bei der Bibliothek des Wallraf-
Richartz-Museums für die Überlassung wertvoller Bücher als Ausstellungsstücke;
bei TV 2000 für Fotos aus Petr Weigls Sebastian-Film; endlich - last but not least -
bei unseren Mitgliedern, Förderern und Freunden, die mit ihren Beiträgen und
Spenden das Centrum Schwule Geschichte und unsere Arbeit hier ermöglichen.

 

Fußnoten:

1 Claude J. Summers (Hg.): The Gay and Lesbian literary heritage. A reader´s companion to the writers and their works, from antiquity to the present. New York 1995; darin: Kaye 1995
2 Jewgeny Charitonov: Unter Hausarrest. Berlin 1996
3 Eekhood; Elisar von Kupffer: Giovan Antonio – il Sodoma, der Maler der Schönheit, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 9 (1908), S. 71-167
4 Saslow 1977; Dynes; Kaye (siehe Anm. 1); Hafkamp 1992; Hafkamp 1993; Kaye
1996
5 Andreas Sternweiler: Die Lust der Götter. Homosexualität in der italienischen Kunst. Von Donatello zu Caravaggio. Berlin 1993, bes. S. 115-119
6 Weingand