6. „Leiden in Schönheit“ - St. Sebastian in Fotografie und Film

Fotografie
Aus der Zeit um die Jahrhundertwende, als Symbolismus und Ästhetizismus das Sebastians-Motiv in Literatur und Bildender Kunst vermehrt aufgriffen, stammen auch die ersten fotografischen Arbeiten zur Sebastian-Legende. Homoerotische und masochistische Aspekte, das heißt die Verherrlichung des schönen, gefesselten Jünglingskörpers und die Identifizierung mit seinem Leiden, spielten in der Fotografie eine deutlich stärkere Rolle als bei anderen künstlerischen Annäherungen an das Thema. Die ersten Sebastians-Fotos entstanden vor dem ersten Weltkrieg durch Fred Holland Day (1864–1933), den Franzosen Jean Reutlinger (Selbstporträt 1913)151 und Elisar von Kupffer. Fred Holland Day nahm seine Bilder 1906 auf. Neben Porträts (u. a. von Oscar Wilde) machte er Nacktfotos junger Burschen im Stile Baron von Gloedens. Seine Modelle suchte er in den Armenvierteln Bostons. Er hatte sich schon vorher mit religiösen Themen beschäftigt, u. a. mit der fotografischen Darstellung der Kreuzigung Christi. Was diese Fotos vielleicht ahnen ließen, machten die Sebastians-Fotos sichtbar: Days homoerotisch-masochistische Neigungen. Seine Biographin vermutet, daß er diese Fotos damals keinem seiner Freunde zeigte.152 Bekannter als Days Arbeiten ist die Aufnahme, bei der sich Elisar von Kupffer Anfang des Jahrhunderts als Sebastian selbst porträtierte: in einer lieblichen Landschaft an einen Baum mehr gelehnt als gefesselt, mit Lendenschurz, Heiligenschein, trotz geschlossener Augen mit verklärtem Gesicht, von nur einem Pfeil in der Seite getroffen (siehe Abbildung 2). Kupffer (1872–1942), Dichter, Maler, Lebensreformer und Herausgeber der ersten Anthologie homosexueller Lyrik (Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur), sah in der Gestalt des hl. Sebastian die von ihm angestrebte Synthese von Christentum und Antike, christlicher Heilslehre und Verehrung der olympischen Götter personifiziert. Aus der hektischen Metropole Berlin war er geflohen und fand Zuflucht in der Abgeschiedenheit von Minusio oberhalb des Sees von Locarno. Er fühlte sich als Märtyrer der Schönheit, und daß er sich in der Pose des Märtyrers fotografieren ließ, zeigt, wie weit er sich mit dem Leiden des hl. Sebastian identifizierte.153 Vom ersten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre spielt das Thema fotografisch keine große Rolle. Erst danach finden sich wieder Fotokünstler, die sich damit beschäftigen, wie z. B. der japanische Fotograf Shinoyama Kishin, der 1970 den Schriftsteller Yukio Mishima auf dessen Wunsch in der Pose des hl. Sebastian fotografierte.154 Seit den siebziger Jahren gewinnen mit der zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung homosexueller Lebensformen die künstlerische Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität allgemein und in diesem Rahmen auch die fotografische Bearbeitung des Sebastian-Themas an Bedeutung. Zwei Richtungen lassen sich unterscheiden: einmal solche Aufnahmen, die an historische Vorbilder anknüpfen, andererseits solche, die sich deutlich von diesen distanzieren. Zu ersteren gehören die Arbeiten des italienischen Künstlers Luigi Ontani. Ontani fotografiert nicht selbst, sondern versteht sich als Darsteller, der durch Nachahmung von Posen und Gesten historischer Bilder deren Ideengehalt in die Gegenwart überträgt und so die Grenzen von Kunst und Leben aufheben will. Sein Werk läßt er durch professionelle Fotografen festhalten. Unter anderem entstanden so mehrere Sebastian-Darstellungen, androgyne Figuren vor artifizieller Natur, die die Künstlichkeit der Gestalten betont.155 Pierre et Gilles zitieren in ihren Fotos Kunstgeschichte in vielfältiger Weise, heben aber auf der anderen Seite durch ihren zuckersüßen Stil, der so kitschig ist, daß er schon wieder schön wirkt, jeden Bezug zur künstlerischen Tradition auf (siehe farbige Abbildung 3).
??Hier noch Illustration einfügen Honoré Daumier: Der neue Sebastian (1849). Diese erste Sebastian-Karikatur zeigt den Herausgeber der mächtigen bürgerlichen Zeitung Constitutionel, als Sebastian den Angriffen des Charivari, eines kleinen Satiremagazins, ausgesetzt.156 Deutlicher distanzieren sich andere Künstler von der Vergangenheit. Arthur Tress fotografierte sein Modell festgebunden in der Cruising-Landschaft der New Yorker Docks (1979). Der in New York lebende Russe Alexander Kosolapov posierte, von Seilen umwunden und ohne Pfeile, unter Hammer und Sichel (1981); Mother Russia nannte er sein Werk.157 Der Performancekünstler Ron Atley ließ sich 1994 tätowiert und kahlköpfig als Sebastian ablichten. Seine Inszenierung HIV/AIDS Odyssey gehört zu einer Serie Märtyrer und Heilige. Einerseits markiert Atley also den Abstand zur Kunstgeschichte, andererseits greift er gerade auf die Rolle des hl. Sebastian als Schutzpatron gegen Epidemien zurück.158

 

Fotocollagen
Aus dem Bereich der Fotocollagen möchten wir zwei Arbeiten herausgreifen. Als Karikaturen zeigen sie, wie vielfältig das Sebastian-Motiv einsetzbar ist. Der frühere Verteidigungsminister Hans Apel mutiert auf einer Titelseite des Stern159 zu einem hl. Sebastian, der stark unter Beschuß steht (siehe Abbildung 3). Die Pfeile sind u. a. mit Aufrüstung, Waffengeschäfte und Tornadoskandal bezeichnet. Hans Apel kämpft hier um sein (politisches) Überleben. Eine ähnliche Collage gibt es von dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, die in der italienischen Zeitschrift Panorama veröffentlicht wurde und an ein Bild des Renaissance-Malers Andrea Mantegna angelehnt ist.160 Berlusconi, dem der Zeitschriftenverlag teilweise gehört, war offensichtlich mit dieser Darstellung einverstanden: seine Geduld mit den Koalitionspartnern macht ihn zum „Heiligen“; durch die Angriffe seiner Kritiker wird er zum Märtyrer.161


Film
Es ist schwierig, sich einen Überblick über die Filme zu verschaffen, die sich mit dem hl. Sebastian beschäftigen. Filmlexika verzeichnen z. B. in der Regel keine Kurzfilme und Dokumentationen oder machen andere Einschränkungen. Ausführlichere Verzeichnisse, z. B. im Internet, verzichten demgegenüber oft auf Inhaltsbeschreibungen. Bei einigen Dokumentationen und Spielfilmen mit Titeln wie z. B. „San Sebastian“ ist somit nicht ersichtlich, ob sie sich mit dem hl. Sebastian beschäftigen oder sich auf gleichnamige Städte oder Kirchen beziehen. Wir haben
uns im Folgenden deshalb auf uns bekannte Filme beschränkt, die deutliche homoerotische Bezüge aufweisen. Zunächst stellen wir in chronologischer Reihenfolge die Filme vor, die sich ausdrücklich mit der Geschichte des hl. Sebastian beschäftigen.


Sebastiane (GB 1976, 85 Min., Regie: Derek Jarman)
Der schwule Kult-Regisseur Derek Jarman162 produzierte 1976 mit Sebastiane seinen ersten Spielfilm. Es folgten weitere biographisch angelegte Filme wie Carravagio (1986), Edward II. (1991) und Wittgenstein (1993). Sebastiane ist ein Experimentalfilm, der in nur dreieinhalb Wochen von einem professionellen Team größtenteils mit Laienschauspielern gedreht wurde. Er wurde lateinisch mit englischen Untertiteln produziert. Die Sebastian-Biographie wurde von Jarman ausdrücklich in einen schwulen Film umgesetzt. Es gelang dem Regisseur dabei, die homosexuellen Bezüge in ihrem historisch-kulturellen Zusammenhang zu zeigen. Aufgrund der Verquickung von Homosexualität und religiösen Motiven gab es während der Premiere von Sebastiane auf dem Filmfestival in Locarno im Juli 1976 starke Proteste.163 Diese gipfelten in der Forderung nach dem Rücktritt des Festival-Direktors (Szenenfoto auf der Titelseite).


Das Martyrium des heiligen Sebastian (D 1985, 82 Min., Regie: Petr Weigl)
Dieser Film orientiert sich an dem Text von Gabriele D’Annunzio und der Musik von Claude Debussy (siehe Kapitel 5). Der Regisseur hat hier eine einfache und verständliche Gegenwartssprache gewählt. Die historische Geschichte enthält darüber hinaus aktuelle Bezüge. So ist z. B. St. Sebastian am Anfang des Films ein Bogenschütze der Gegenwart, der in das 3. Jahrhundert versetzt wird. Weiterhin wird am Anfang und am Ende des Films auf die Leiden des 20. Jahrhunderts verwiesen (Vietnamkrieg, Zweiter Weltkrieg, Dritte Welt). Die homoerotischen Aspekte der Vorlage, wie die Liebesbekundungen des Kaisers und der Schützen und die sexuelle Verweigerung Sebastians dem Kaiser gegenüber, hat der Regisseur übernommen. Durch zusätzliche Dusch- und Massageszenen hat er den homosexuellen Bezug noch stärker ausgestaltet. Der Film benutzt teilweise theatralische Effekte. Die Darstellung Sebastians mit Heiligenschein und das Erscheinen eines Engelchores wirken kitschig (Szenenfoto siehe farbige Abbildung 1).


Saint (Belgien 1996, 11 Min., Regie: Bavo Defurne164)
In diesem Kurzfilm wurde der klassische Mythos experimentell umgesetzt. Ein zentrales Motiv ist die sexuelle Glorifizierung des gemarterten Körpers. In Anlehnung an Jean Genets Un chant d’amour und das deutsche expressionistische Kino wurde in Saint mit einfachen und technisch wenig aufwendigen Mitteln bewußt die Phantasie des Zuschauers angesprochen. Die dunklen und verschwommenen Bilder tragen zu einer geheimnisvollen und mystischen Atmosphäre bei. Saint
wurde auf verschiedenen schwulen Filmfestivals gezeigt und 1996 in Hamburg ausgezeichnet (Szenenfoto auf der hinteren Umschlagseite). Im folgenden möchten wir, ebenfalls in chronologischer Reihenfolge, auf einige Filme eingehen, in denen auf unterschiedliche Weise Bezüge zum Sebastian-Mythos hergestellt werden.165


Plötzlich im letzten Sommer (GB 1959, 115 Min., Regie Joseph L. Mankiewicz)
Der Film wurde nach einem Theaterstück von Tennessee Williams gedreht und mit Kathrin Hepburn, Elizabeth Taylor und Montgomery Clift in den Hauptrollen besetzt. Aufgrund der zu dieser Zeit gültigen amerikanischen Zensurgesetze gibt es hier nur Andeutungen über die Homosexualität des Hauptdarstellers (namens Sebastian!), der mit Dorfjungen sexuelle Kontakte suchte und deswegen ermordet wurde. Ob die Namensgleichheit zwischen dem hl. Sebastian und der ermordeten Filmfigur beabsichtigt ist, kann nur vermutet werden. Im Film gibt es jedoch weitere Sebastian-Bezüge. Im Atelier des Ermordeten hängt z. B. ein großes Sebastian-
Gemälde, und es wird darauf verwiesen, daß der Heilige beim gemeinsamen Tee über Sebastian und seine Mutter wache. Der Sebastian dieses Films wird als schwuler Außenseiter gezeichnet und als „Berufener“ charakterisiert, der das „Angesicht Gottes gesehen“ hat und „nicht von dieser Welt“ ist. Er wird, wie St. Sebastian auch, erschlagen und später nackt im Eingang einer Tempelruine gefunden.


Mishima (USA 1985, 121 Min., Regie: Paul Schrader)
In diesem Film wird das Leben des japanischen Autors Yukio Mishima dargestellt, der sein Leben lang von Sebastian fasziniert war. Der Film greift dies an zwei Stellen auf. Zunächst als Mishima als pubertierender Jugendlicher zum ersten Mal mit einer Sebastian-Darstellung konfrontiert wird und dabei seinen ersten Orgasmus erlebt. In einer weiteren Szene läßt er sich in der Pose des hl. Sebastian fotografieren (siehe oben, Kapitel 4). Der Film endet mit Mishimas Selbstmord: dem
rituellen Harakiri.

 

Der Rosenkönig (D / Portugal 1986, 105 Min., Regie: Werner Schroeter166)
In einer verlassenen Gegend Portugals züchten eine Frau und ihr 25jähriger Sohn Albert Rosen. Die fanatische Suche des Sohnes nach der idealen Rose verschmilzt allmählich mit seiner Liebe zu einem von ihm gefangengehaltenen jungen Dieb. Am Ende steigert sich Alberts Lust zur Todessehnsucht. In verschiedenen Szenen, die sich deutlich an die Sebastian-Legende anlehnen, wird der junge Dieb von Albert erst geliebt und dann getötet. In die blutenden Wunden legt Albert Rosen. Eine schwelgerische Verfilmung mit viel klassischer Musik, die aufgrund ihres Kunstverständnisses folgendermaßen charakterisiert wurde: „Eine symbolüberfrachtete, im schwülstigen Opernstil inszenierte Parabel um Liebe, Schmerz und Tod.“167


Lilies - Theater der Leidenschaft (Kanada 1996, 95 Min., Regie: John Greyson)
Anfang der 50er Jahre reist ein Bischof in ein Gefängnis, um einem Häftling die Beichte abzunehmen. Dem Bischof wird im Laufe der Beichte deutlich, daß er selber Teil der erzählten Geschichte ist, die vor fast 40 Jahren begann. In die Lebensbeichte ist der Bericht über eine Theateraufführung eingeflochten, in der der Häftling die Rolle des hl. Sebastian übernommen hat. Der Film zeigt ist die typische Szene des Pfeil-Martyriums. Die besondere Bedeutung der Sebastian-Szene ist daran ersichtlich, daß die im Handel erhältlichen Poster und Videocasetten als
Bildmotiv die Szene mit dem gefesselten Sebastian wiedergeben. Dieser kurze Überblick zeigt, daß der hl. Sebastian nicht unbedingt eine Hauptrolle im schwulen Film spielt, aber sicher zu den beachtenswerten Nebenrollen gehört.

 

Fußnoten:

151 Hafkamp 1993, S. 141; Abbildung bei: A. Foster: Behold the Man. The Male Nude in Photography. Edinburgh 1988, S. 25

152 Estelle Jussim: Slave to the Beauty. The Eccentric Life and Controversial Career of F. Holland Day. Boston 1981, bes. S. 172f.; Kaye 1996, S. 91-93

153 Graevenitz (Kapitel 3, Anm. 16); Heusinger, S. 20, 35; Hafkamp 1993, S. 141

154 siehe oben Kapitel 4

155 Peter Weiermair (Hg.): Luigi Ontani. Kilchberg 1966; Heusinger, S.83f.

156 Heusinger, S. 29 und Abb. 8

157 Heusinger, S. 55 und Abb. 46

158 Kaye 1996, S. 99f. und Abb. 5.5

159 Der Stern, Heft 7, 5.2.1981

160 Panorama, Heft 32, 12.8.1994; nach: Der Spiegel, Heft 33/1994, S. 175

161 Der Spiegel, ebd.

162 Gray Watson: Derek Jarman, in: Parkett, Heft 11/1986, S. 16-25

163 Derek Jarman: Dancing ledge. London 1984

164 Nähere Informationen über den Regisseur und seine Filme können im Internet unter http://www.users.skynet.be/bavodefurne abgerufen werden

165 Um Irrtümern vorzubeugen sei darauf verwiesen, daß es sich bei dem Film Sebastian - Freundschaft oder Liebe (Norwegen, Schweden 1995, Regie: Svend Wam) nur um einen schwulen Coming Out-Film mit zufälliger Namensgleichheit handelt.

166 Auch in anderen Filmen wie Argila, Neurasie und Eika Katappa hat Werner Schroeter den hl. Sebastian thematisiert; siehe Der Spiegel, Heft 45/1970, S. 208

167 Lexikon des internationalen Films. 1998