1. „Wollen Seuchen zu uns schleichen, bitte, daß sie von uns weichen“ - St. Sebastian als Märtyrer und Schutzpatron

Die Quellen
Es gibt nur wenige glaubwürdige historische Quellen zum Leben des Heiligen Sebastian. Die Legenden überwiegen und bestimmen die Überlieferung. Die ältesten Hinweise finden sich in zwei Märtyrerverzeichnissen (in der Depositionsliste des Chronographen vom Jahr 354 und im Martyrologium Hieronymianum, um 450 zusammengestellt). Danach erlitt ein Sebastian an einem 20. Januar den Märtyrertod, wurde in den Katakomben an der Via Appia beigesetzt und schon früh als Heiliger verehrt. Aus einer Predigt, die der hl. Ambrosius, Bischof von Mailand, vermutlich am 20. Januar 388 hielt, erfahren wir zusätzlich, daß Sebastian (oder zumindest seine Familie) aus Mailand stammte und daß er in Rom, weil er am christlichen Glauben festhielt, hingerichtet wurde.8 Die als Sebastians Grab bezeichnete Nische in den Katakomben befindet sich in einer
Galerie am Eingang der Katakomben; da diese Galerie in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts angelegt wurde, ist es wahrscheinlich, daß Sebastian in dieser Zeit oder wenig später starb und begraben wurde.9

 

Die Legende
Alle weiteren Details zu Sebastians Leben gehen auf Dokumente zurück, die lange nach seinem Tod niedergeschrieben wurden und deren historische Glaubwürdigkeit als gering einzuschätzen ist.10 Die Legenden um Sebastian müssen heute letztlich als Erzählungen zur Propagierung und Verteidigung des christlichen Glaubens beurteilt werden.11 Nach diesen Legenden stammte Sebastians Mutter aus Mailand. Sie war mit einem römischen Beamten aus Narbonne in der Provinz Gallien (heute Südfrankreich) verheiratet. Sebastian wurde in Narbonne oder Mailand geboren und wuchs in Mailand auf. Er wurde Soldat und machte schnell Karriere. Wann genau er nach Rom kam (vielleicht 283) und warum, ist nicht bekannt. Jedenfalls fiel er dort wegen seiner Treue und Ergebenheit den Kaisern Diokletian (284-305) und Maximian (286-305) auf, die ihn schließlich in ihre persönliche Leibwache beriefen. Er wurde Präfekt der ersten Kohorte der Bogenschützen und von seinen Soldaten wie ein Vater verehrt. Zur Zeit seines Märtyrertodes war er also, entgegen vielen Abbildungen aus späterer Zeit, kein junger Mann mehr. Sebastian war schon Christ, bevor er nach Rom kam. In Rom hielt er seine Bekehrung allerdings zunächst geheim. Schließlich konnte er wegen des Vertrauens, das er bei den Kaisern genoß, bei vornehmen Familien und Beamten für den christlichen Glauben werben und gefangenen Christen Zuspruch leisten. Zwei christliche Soldaten, die Zwillinge Marcellianus und Marcus, bestärkte er darin, standhaft bis in den Tod zu ihrem Glauben zu stehen. Papst Cajus (282/83-296) bot er im kaiserlichen Palast Zuflucht vor seinen Verfolgern an. Als schließlich Sebastians eigene Zugehörigkeit zum christlichen Glauben bekannt geworden war, wurde er verhaftet und, da er Soldat war, vor Kaiser Diokletian gebracht. Diokletian konnte Sebastian weder durch Versprechungen noch durch Drohungen zum Abfall vom Christentum bewegen. Er verurteilte ihn deshalb zum Tode und ordnete an, daß Sebastian von den Bogenschützen seiner eigenen Kohorte erschossen werde. Die Soldaten banden Sebastian an einen Baum und sollen tausend Pfeile auf ihn abgeschossen haben. Im Glauben, daß er tot sei, ließen sie ihn quasi ericius12, wie einen Igel, zurück. Irene, eine fromme Witwe, die ihn begraben wollte, stellte fest, daß Sebastian noch lebte. Sie nahm ihn in ihr Haus auf und pflegte ihn gesund. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Sebastianslied aus Kuchenheim, 5. Strophe (1840)13
Mit großem Mut trat Sebastian nach seiner Genesung erneut dem Kaiser entgegen und machte ihm Vorhaltungen wegen seiner Grausamkeit gegenüber den Christen. Diokletian befahl zum zweitenmal die Hinrichtung Sebastians, und diesmal wurde der zukünftige Heilige von Soldaten in der Pferderennbahn mit Keulen erschlagen. Das soll sich im Jahr 304 zugetragen haben. In anderen Überlieferungen wird das Jahr 287 angegeben, was aber wenig wahrscheinlich ist, da die große Christenverfolgung unter Diokletian erst im Jahr 303 begann.14 Sebastians Leiche wurde in die Cloaca maxima, Roms großen Abwasserkanal, geworfen. Im Traum beauftragte der Märtyrer die Jungfrau Lucina, seinen Leichnam zu bergen. Lucina begrub ihn in den Katakomben und wachte und betete dreißig Tage an dem Grab.15 Unter anderem auch wegen ihrer Verdienste um Sebastian wurden Irene und Lucina später selbst als Heilige angesehen.


Heiligenverehrung
Sebastian wurde schon bald als Heiliger verehrt. Aus diesem Grund wurde der Platz um sein Grab zu einem rechteckigen Gruftraum erweitert und Mitte des 4. Jahrhunderts mit der damals über den Katakomben erbauten, später nach Sebastian benannten Basilica Apostolorum durch eine Treppe verbunden. Diese erste Sebastians-Kirche zählte zu den sieben früh-christlichen Pilgerkirchen Roms (den heutigen Bau ließ Anfang des 17. Jahrhunderts Kardinal Scipio Borghese errichten). Unter Papst Sixtus (432-440) wurde neben der Basilika zur Sicherung und Verbreitung des Sebastian-Kultes ein Kloster erbaut. Ein Mönch verfaßte hier in der Mitte des 5. Jahrhunderts die Passio Sancti Sebastiani (Leidensgeschichte des hl. Sebastian), die Grundlage aller späteren Sebastian-Legenden16. 826 wurde ein Teil der sterblichen Überreste Sebastians in das Medardus-Kloster nach Soissons in Frankreich gebracht. Im 16. Jahrhundert plünderten Hugenotten das Grab und warfen Sebastians Gebeine samt denen des heiligen Papstes Gregor und des hl. Medardus in den Klostergraben. Ein Teil der wertvollen Reliquien konnte geborgen werden, ging allerdings in den Wirren der Französischen Revolution endgültig verloren.17 Die in Rom verbliebenen Überreste Sebastians wurden 827 in die Vatikanbasilika überführt, 1218 zurück in die Sebastians-Basilika gebracht.18 Sebastians Schädel wurde an die Kirche der Heiligen Vier Gekrönten (Santi Quattro Coronati) in Rom weitergegeben. 1624 fand man in dieser Kirche einen Silberpokal mit einem Schädelstück und einer Inschrift, die das bestätigte. Teile der Hirnschale des Heiligen besitzt Kloster Ebersberg bei München. Diese Teile sind in einen silbernen Pokal eingearbeitet, aus dem noch heute jeweils am 20. Januar geweihter Wein getrunken wird. Es wird von vielen Wundern berichtet, die in Ebersberg auf Fürbitte des Heiligen hin geschehen sein sollen. Ein Armknochen Sebastians wurde 1240 von Papst Innozenz dem Franziskanerkloster
in Hagenau (Elsaß) geschenkt.19 Andere Teile der sterblichen Überreste Sebastians gelangten nach Brüssel (eine Hand), Florenz, Bern, Koblenz, Echternach in Luxemburg, Spanien und in die Niederlande. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Giovanni Maggi: Basilica San Sebastiano an der Via Appia, Rom (Kupferstich, Anfang 17. Jh.)
Drei Glieder der Kette, mit der der Heilige gefesselt war, werden in einer Kapelle der Kirche Sant´Andrea della Valle, die am Fundort des Leichnams errichtet wurde, aufbewahrt. Eine der Pfeilspitzen, von denen er getroffen wurde, befindet sich in der Schatzkammer des Kölner Doms20. Die Säule, an der er in der Pferderennbahn erschlagen wurde, wird bis heute in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli gezeigt. St. Sebastian war im Mittelalter einer der populärsten Heiligen. Ein Grund dafür war die Schilderung seines Schicksals in der Legenda aurea, einer von dem Dominikaner Jakob von Viraggio (Jacobus de Voragine), Erzbischof von Genua, im 13. Jahrhundert zusammengetragenen Sammlung von Heiligenlegenden, die in der
Folge das am meisten verbreitete Erbauungs- und Volksbuch des Abendlandes wurde.21


Der Schutzpatron
Noch wichtiger für Sebastians Beliebtheit war aber vermutlich seine Rolle als Schutzheiliger gegen die Pest. Im Jahr 680 erlosch eine in Italien wütende Epidemie, nachdem Reliquien des Heiligen in einer Prozession durch Rom getragen und ihm zu Ehren Altäre in Rom und Pavia, damals Hauptstadt des Lango-bardenreiches, errichtet worden waren.22 Bei der furchtbaren Seuche des Jahres 590 wurde Sebastian noch nicht erwähnt. Es scheint demnach, daß ihm erst seit dem 7. Jahrhundert die Fähigkeit der Pestabwehr zugeschrieben wurde.23 Zum volkstümlichen Pestheiligen wurde Sebastian mit der großen Pestwelle um 1350.24 Auch gegen die Mailänder und die Lissaboner Pest (1575 bzw.1599) soll Sebastian geholfen haben. Schon im Alten Testament galt der Pfeil als Symbol einer plötzlich auftretenden, gleichsam herangeflogenen Krankheit.25 Im Mittelalter war die Vorstellung, daß die Pest durch Pestpfeile übertragen wurde, all-gemein verbreitet. Die Hoffnung auf Hilfe richtete sich deshalb an den hl. Sebastian, weil er durch Pfeile getötet werden sollte, den Beschuß aber überlebte. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Aus einem Kölner Gebetbuch (1721)26. Zahlreiche Bruderschaften zur Pflege von Pestkranken und zur Bestattung der Pestopfer wählten ihn aus dem gleichen Grund zu ihrem Schutzpatron.2728 Auch bei anderen Menschen- und Tier-Epidemien wurde Sebastian durch Gebete und Prozessionen um Hilfe angerufen. Er gilt bis heute als Schutzheiliger der Soldaten, Jäger, Schützen und Schützenbruderschaften, Feuerwehrleute, Kriegsinvaliden, Büchsenmacher, Eisenhändler, Zinngießer, Nadler, Steinmetze, Gärtner, Gerber, Töpfer, Kornhändler, Kranken, Sterbenden, schwächlichen Kinder, Leichenträger u.a. Er ist dritter Schutzpatron Roms (neben den Aposteln Petrus und Paulus), Patron der Provinz Asti (Italien), des Bistums Chiemsee, der Grafschaft Oettingen und u.a. der Städte Gent, Lamego (Portugal), Lodi (Italien), Mannheim, Oppenheim und Soissons.29 Mehrere Städte in Spanien, Süd- und Mittelamerika sind nach ihm benannt, am bekanntesten davon San Sebastian im Baskenland. Die Kirchen und Pfarreien, Kapellen und Hospitäler, deren Namensgeber Sebastian ist, sind nicht zu zählen. Schon im Mittelalter gab es allein in Rom neun Kirchen und Kapellen, die Sebastian geweiht waren.30 Sebastians Beliebtheit zeigt sich in Kirchenliedern und der Darstellung seiner Legende in geistlichen Schauspielen.31 Mit seinem Fest verband sich ein reiches Brauchtum wie Wallfahrten, Tragen von silbernen Sebastianspfeilen oder Amuletten mit seinem Bildnis gegen die Pest und andere Krankheiten, Trinken der „Sebastiansminne“ (d. h. von geweihtem Wein nach dem Vorbild von Kloster Ebersberg) und Verteilen von geweihten „Sebastiansbroten“ am Sebastianstag (20. Januar).32 In der Überlieferung zum hl. Sebastian findet sich kein Hinweis darauf, daß Sebastian homosexuell war33. Sebastians Verklärung zum schwulen Idol ist Ergebnis eines komplizierten Prozesses, der sich im wesentlichen in den letzten hundert Jahren abspielte. Wir gehen darauf unten näher ein. Homosexueller Heiliger jedenfalls war Sebastian nie.

 

Fußnoten:

7 Gesangbuch der Diözese Rottenburg, 1865; zitiert nach Reiter, S. 40

8 Gordini / Cannata, Sp. 776; Siegerist, S. 305

9 A. Amore: Sebastian, in: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. 9. Band, Freiburg 1964, Sp. 557

10 Kaye 1995, S. 64

11 Gordini / Cannata, Sp. 777

12 Passio Sancti Sebastiani, zitiert nach: Ogrinc, S. 41

13 zitiert nach Johannes Krudewig: Geschichte der Bürgermeisterei Cuchenheim. Zum 500jährigen Bestehen der St. Sebastianus-Schützengesellschaft bzw. -Bruderschaft zu Cuchenheim (3. Juli 1921). Euskirchen 1921, S. 105

14 Jacques Moreau: Die Christenverfolgung im Römischen Reich. Berlin 1961, S. 103ff.

15 Passio Sancti Sebastiani, in: Acta Sanctorum. Ianuarii, II, Paris 1869, S. 621-660; Nacherzählungen u.a. in: Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 36, Leipzig und Halle 1743, Sp. 820f.; Joh. Evang. Stadler: Vollständiges Heiligenlexikon, Bd. V, Augsburg 1882, S. 229-231;und Mönnink 1993, S. 19-20

16 Amore (Anm. 3), Sp. 557

17 Stadler (Anm. 9), S. 230f.; Gordini / Cannata, Sp. 784f.

18 Gordini / Cannata, Sp. 784f.

19 Amore (Anm. 3), Sp. 557f.

20 siehe unten, Anhang 1

21 O. Rühle: Legenda aurea, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl.,Bd. 4. Tübingen 1960; Richard Benz: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Nachdruck, 2 Bde. Köln, Olten 1969 (zu Sebastian: Bd 1, S. 169ff.)

22 Paulus Diaconus: Historia Langobardorum, Buch VI, Kap. 5

23 Hadeln, S. 2

24 Lexikon der Kunst, Bd. IV. Leipzig 1977, S. 434

25 Psalm 7,13; Buch Hiob 6,4

26 Geistliche Kriegsrüstung (...). Köln 1721, S. 2

27 ???

28 siehe unten Kapitel 2

29 Dietrich Heinrich Kerler: Die Patronate der Heiligen. Ein alphabetisches Nachschlagebuch. Ulm 1905, S. 324

30 Gordini / Cannata, Sp. 785

31 Schmid

32 Reiter; Amore (Anm. 3), Sp. 557; Wolfsteiner

33 Hafkamp 1993, S. 139; William A. Percy: Gay Clergy, in: Encyclopedia of Homosexuality. Bd. 1. New York 1990, S. 240