7. „Das getreue Abbild dieser unausrottbaren Liebe“ - St. Sebastian im schwulen Leben


Kann der hl. Sebastian als eine schwule Kultfigur bezeichnet werden oder ist er sogar, wie Dominique Fernandez es zuspitzte, der „Schutzpatron“168 der Schwulen? Das würde voraussetzen, daß es eine besondere Affinität der Homosexuellen zur Figur Sebastians gab bzw. gibt und daß eine Rezeption des hl. Sebastian auch im Alltag der Schwulen zu entdecken ist. Um die Bedeutung von Sebastian für das schwule Leben zu klären, ist es wichtig, Sebastian nicht als historische Persönlichkeit anzusehen. Forschungen über die Faszination Sebastians auf der Grundlage seiner Biographie müssen (nicht nur aufgrund der wenigen überlieferten Daten) in einer Sackgasse enden. Denn selbst wenn Sebastian real gelebt hätte, ist er, nicht nur im Bereich der schwulen Kultur, zu einer Kunstfigur geworden. Zur schwulen Kultur werden die unterschiedlichsten fiktiven, mythologischen und historischen Gestalten gerechnet, die einen hohen Signalwert für Homosexuelle besitzen. Was verschiedene wissenschaftliche Arbeiten bereits ausführlich analysiert haben169, kann hier nur resümiert werden. Zu den fiktiven Gestalten mit einem hohen Signalwert gehören z. B. Tadzio (aus der Novelle Der Tod in Venedig) oder Goethes Erlkönig. Beiden ist gemeinsam, daß sie sich zu eigenständigen schwulen Ikonen gewandelt haben. Zu den mythologischen Gestalten gehören aus der griechischen Sage z. B. der in sich selbst verliebte Narziß und Ganymed, in den Zeus so verliebt war, daß er ihn durch seinen Adler in den Himmel entführen ließ. Zu den historischen Gestalten mit Signalwert zählt neben den Paaren David / Jonathan (bekannt aus dem Alten Testament) und Hadrian / Antinous (der römische Kaiser und sein jugendlicher Geliebter) die Person des hl. Sebastian.


Was fasziniert Schwule am hl. Sebastian?
Warum gerade der hl. Sebastian auf Schwule eine so große Faszination ausübt, ist nicht einfach zu beantworten, zumal sich in den Überlieferungen kein Hinweis darauf findet, daß Sebastian homosexuell war.170 Die sich anbietenden Erklärungsmuster beziehen sich auf verschiedene Ebenen und können im Rahmen dieser Broschüre nur angedeutet werden. Ein tiefenpsychologischer Diskurs kann hier nicht geleistet werden. Auf der seelischen Bezugsebene ist das Leiden ein Thema, mit dem sich viele Schwule identifizieren konnten. Das wird besonders deutlich, wenn die Gestalt des Sebastian sowohl Elisar von Kupffer als auch Jahrzehnte später Yukio Mishima zu identifizierenden Photos inspirierte. Dieses Identifizierungsangebot trifft jedoch auf fast alle christlichen Märtyrer zu. Daher muß dieser Bezug auf jeden Fall im Kontext mit dem optischen Reiz der Darstellung Sebastians gesehen werden. Der hl. Sebastian war über Jahrhunderte eine der wenigen von der Kirche erlaubten Aktdarstellungen. Das betonte noch in den 50er Jahren ein Gedicht aus der Schwulenzeitschrift Der Kreis:
„Sanct Sebastian Du Einziger, den die Kirche gab, nackt ihn zu verehren,
wirf Deine rostgen Lanzen ab, die deinen Leib versehren.“171
Daß Christus, der ebenfalls oft halb-nackt dargestellt wurde, fast keine Signalwirkung für Schwule besitzt, kann darin begründet liegen, daß eine Identifizierung mit ihm als Anmaßung aufgefaßt wurde und man ihm mit mehr Respekt gegenübertrat.172 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Gedicht aus dem Kreis (1953)173 Für die Identifikation vieler Schwuler mit Sebastian kann eine Rolle gespielt haben, daß sein Bekenntnis zum Christentum als eine Art Coming Out interpretiert wurde.174 Des weiteren wurde der Beschuß mit Pfeilen als symbolische Penetration gedeutet, den Pfeilen also eine phallische Bedeutung beigemessen.175 Michel Tournier176 sieht in den Handlungen des Schützen (spannen und loslassen) eine
Entsprechung zur (Homo-)Sexualität: Aufbau einer sexuellen Spannung und Orgasmus. Nach Tournier gibt es zwei typische Fehlermöglichkeiten eines Schützen, die in einer zu langen bzw. einer zu kurzen Zeitspanne zwischen diesen beiden Handlungen bestehen. Bei der Sexualität ist dies die Angst vor Impotenz bzw. vor einem verfrühten Orgasmus. Ob diese Überlegungen zutreffende Aspekte zur Beantwortung der Frage bieten, warum sich viele Schwule von Sebastian so angezogen fühlen, kann hier nicht weiter erörtert werden. Ein letzter Aspekt, der oben schon angesprochen wurde177, ist in hier anzufügen: Sebastian litt Schmerzen und ertrug Leid. Lustvolles Zufügen und Ertragen von Schmerzen gehört in der SM-Szene zum sexuellen Spiel. Da vor der Aneignung durch sexuelle Phantasien wohl nichts sicher ist, können Sebastian-Gemälde und Erzählungen, auch wenn es nicht beabsichtigt ist, durchaus sadomasochistische Phantasien anregen. Sie haben sicher zu Sebastians Wirkung auf Schwule beigetragen.


Vor 1933
Was wissen wir von der Sebastian-Rezeption im Alltagsleben von Homosexuellen? Da in diesem Bereich noch keine Vorarbeiten geleistet worden sind, müssen wir uns hier auf wenige Hinweise beschränken. Magnus Hirschfeld hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die  Schwulenbewegung mitgeprägt. Von ihm haben wir auch die erste Information über die Bedeutung Sebastians für den „gewöhnlichen Homosexuellen“. In seinem Buch Die Homosexualität des Mannes und des Weibes178 beschreibt er die Wohnungseinrichtung
von Schwulen und zählt dabei fünf Bildmotive auf (Sebastian setzt er dabei an die erste Stelle), die als Indiz für Homosexualität angesehen werden können: „Abgesehen davon, daß Zimmereinrichtung und Wandschmuck besonders bei femininen Urningen oft das Zarte, Weichliche, bisweilen auch das Exzentrische ihrer Persönlichkeit verraten, sind es die gleichen, sich häufig wiederholenden Kunstwerke, denen wir in den Wohnungen von Homosexuellen vielfach begegnen. Zu solchen bevorzugten Kunstwerken gehören (...) unter anderen: der heilige
Sebastian in den verschiedensten Darstellungen der italienischen Blütezeit (...). Es ist natürlich nicht zulässig, aus den vereinzelten Kunstwerken dieser Art Schlüsse ziehen zu wollen; nur wenn sich zahlreiche Darstellungen ähnlichen Genres häufen, wenn man nach der intimen Art der Placierung rein dekorative Absichten oder den bloßen Zweck des Sammelns von Kunstgegenständen möglichst ausschließen kann, gewinnt im Zusammenhang mit anderen Momenten diese Erscheinung eine diagnostische Bedeutung.“ [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Titel der Zeitschrift Der Eigene (1920). Etwa zur gleichen Zeit taucht Sebastian auch in unterschiedlicher Weise in Schwulenzeitschriften auf. In Der Eigene (1896-1932), der weltweit ersten Homosexuellenzeitschrift, herausgegeben von Adolf Brand, wird an drei Stellen auf St. Sebastian Bezug genommen. Eine Erzählung von 1926179 beschreibt wie
Magnus Hirschfeld die Wohnungseinrichtung eines Schwulen und kommt auf die Identifikation mit Sebastians Leiden zu sprechen. „Seine Wohnung war im Verlauf der Jahre zu einem Ausdruck seines Wesens, seiner Persönlichkeit geworden; sie offenbarte seine heimlichsten Gedanken, und deshalb sah er es ungern, wenn fremde Leute zu ihm kamen.“ Zu dieser Zimmereinrichtung gehört natürlich ein großes Ölgemälde von Sebastian (nach Guido Reni). Zu den wenigen Menschen, denen er den Zugang zu seiner Wohnung gestattet, gehört jemand, der sich so
über das Gemälde äußert: „Der Sebastian ist doch ein wirklicher, ein christlicher Heiliger und steht über dem Heidengott. Der Sebastian zeigt uns, wie wir Erdenleid und Erdenschwere tragen sollen: lächelnd mit dem Aufblick nach oben.“ [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Titelblatt des Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen (1908). Schon 1920 verwendet Waldfried Burggraf180 in einer gefühlsbeton-ten Erzählung das Sebastian-Motiv: „Als Sebastian am Marterpfahl stand, und sich die zitternden Pfeile in die Schönheit seines Leibes hineinfraßen, und seine brechenden Augen voll Weh über die johlende Menge, die dieses Schauspiel umstand, glitten, sah er in der vordersten Reihe der schreienden, mordgierigen Horde einen Knaben, dessen Augen voll Angst zu ihm em-porsprachen. Da war es ihm, als ob sich dieser Kinderblick wie eine liebe, gütige Hand um sein sterbendes Herz legte, und aus seinen schmerzverzerrten Zügen löste sich das Lächeln eines Siegers. Viele sagen, den Blick nicht von den Augen des Knaben lassend, habe er das Haupt zu Tode geneigt.“ In Der Eigene ist Sebastian auch Gegenstand kunstgeschichtlicher Betrachtungen181. In seiner Abhandlung Der schöne Jüngling in der bildenden Kunst aller Zeiten zeigt sich O. Kiefer neben den Sebastian-Darstellungen von Giorgione und Ribera vor allem von der Sebastian-Gestalt Guido Renis angetan: „Eine fast jungfrauenhafte Weichheit und Innigkeit liegt in diesem schönen, so
gottergeben gen oben blickenden Jünglingsgesicht, das eines mädchenhaft zarten Körpers Blüte bildet.“ In der zweiten Homosexuellenzeitschrift dieser Zeit, dem von Magnus Hirschfeld herausgegebenen Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung
der Homosexualität (1899-1933), porträtierte 1908 Elisar von Kupffer (Elisarion) den homosexuellen Maler Sodoma: Giovan Antonio - il Sodoma. Der Maler der Schönheit“.182 Von Sodoma sind wenigstens sechs Sebastian-Gemälde überliefert (siehe Kapitel 3). Kupffer kann sich in seiner Begeisterung für den hl. Sebastian kaum zurücknehmen und schreibt: „Dieser Heilige ist nicht einer von den Vielen, sondern bedeutet in jenem Zeitabschnitt der Wiedergeburt ursprünglichen Empfindens den tiefsten Ausdruck eines Sehnens, das durch Leid sich zur Ethik
der Schönheit und Harmonie des Leibes und der Seele durchdringen möchte.“183 Zur Darstellung des hl. Sebastian in Siena (Santo Spirito) führt Kupffer aus: „Hier steht der ,Märtyrer der Schönheit’ an eine Marmorsäule gefesselt, in nahezu hüllenloser Jugendschöne da. Sein Leib verbindet wieder in harmonischer Einheit männliche Kraft und weibliche Anmut (...). Daß diese Reife und Kraft des Leibes mit der jugendlichen Ursprünglichkeit des Ausdrucks und einer weiblichen Anmut auch heute noch in realer Gestalt leben kann - wie angesichts dieses Bildes
bezweifelt worden ist - dafür ließen sich Beweise erbringen, Aufnahmen nach dem Leben.“184


1933 bis 1945
Die Äußerungen Magnus Hirschfelds über die Wohnungseinrichtungen von Schwulen in der Kaiserzeit haben starke Ähnlichkeit mit einer Schilderung von Nicolaus Sombart aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sombart (der Sohn des bekannten Nationalökonomen) schildert in seinem autobiographischen Bericht Jugend in Berlin 1933-1945 unter anderem Begegnungen mit Intellektuellen und Künstlern aus dem Bekanntenkreis seiner Eltern, z. B. Gustav Gründgens. Zu
diesen gehörte auch Fred Schmidt, Gründer und Führer eines 1934 verbotenen Jungenbundes, der allerdings wegen seiner homoerotischen und quasi-religiösen Strukturen von der offiziellen Bündischen Jugend abgelehnt worden war.185 Schmidt hatte sich der NS-Ideologie angepaßt, was er durch Tragen eines Hitler-Bärtchens dokumentierte, verbarg aber seine homosexuellen Neigungen nicht. Nicolaus Sombart, den er offen umwarb, beschrieb Schmidts Dahlemer Wohnung so: „Doch da waren schon die beiden untrüglichen Attribute dieser Sorte von  Junggesellenhaushalten - die würdige alte Dame (...) und (über einem mit dunkelrotem Brokat drapierten Ruhebett) das Leidensbild des heiligen Sebastians, lebensgroß, ohne Lendenschurz, von Pfeilen durchbohrt, blutüberströmt - ein Meisterwerk des italienischen Manierismus. (...) Er gehörte nun einmal zu diesem Biotop, genauso wie die Mutter, die das Spiel mitspielt. (...) Handkuß. Salon-Konversation, Hausführung. Kein verfängliches Wort, keine verfängliche Geste. Für den, der den Code verstand, ein eindeutiges Angebot. Ich will sagen, daß ich den Code verstand - aber die Atmosphäre gefiel mir nicht.“186 Auch in unserer Zeit gibt es noch Wohnungen von Homosexuellen, in denen man Sebastian-Gemälden begegnet. Das trifft auf zwei unserer Leihgeber zu, aber auch auf Prominente wie den Modeschöpfer Gianni Versace, der in seiner Wohnung ein großes Sebastian-Gemälde hängen hatte – allerdings ohne die eigentlich
obligatorischen Pfeile.187


1945 bis 1969
Ein weiterer Beleg für die Integration Sebastians in das schwule Leben ist der Roman Der Überläufer des homosexuellen Autors Julien Green (1900-1998)188. Der Roman handelt - wie so oft bei Julien Green - von unerfüllter Liebe. Aufgrund seiner stark autobiographischen Bezüge ist dieses Buch als Zeitdokument anzusehen. Es geht hier um einen Mann, der seiner Freundin von der Faszination erzählt, die Sebastian auf ihn ausübt: „Welch eigenartige Anmut besitzt dieser junge Mann! Ich spreche (...) von einem Jungen mit einem vollen Gesicht und so zierlichen Gliedmaßen wie Dionysos, der voller Bescheidenheit einen kleinen Pfeil trägt, der in seiner
gebräunten Seite steckt. Mit seinen gefalteten Händen und seinem mal traurigen, mal verschlossenen Blick ist er das getreue Abbild dieser unausrottbaren Liebe (...). Es hat mir beinahe zehn Jahre lang ein Leben ohne allzuviel Leiden ermöglicht; Sie müssen wissen, Hedwig, daß ich meine wahre Natur verkannt habe (...).“
In der Zeitschrift Der Kreis, der wichtigsten Homosexuellenzeitschrift der 50er und frühen 60er Jahre, wurden mehrfach Sebastian-Darstellungen als Illustrationen verwendet. Neben dem oben wiedergegebenem Gedicht wurde z. B. ein Sebastian-Gemälde von Rubens reproduziert.189 In der Regel wurde bei diesen Abbildungen auf erläuternde Texte verzichtet. Insgesamt finden sich im Kreis zehn Sebastian-Darstellungen190, u.a. von Guido Reni191, Bartholomäus Stefferl192,
Friedrich Stahl193 und El Greco.194

 

Nach 1969
Die Straffreiheit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen (in der Bundesrepublik seit 1969) und die hier wie in anderen Ländern zunehmende Akzeptierung homosexueller Lebensformen haben das Leben der Homosexuellen deutlich verändert. Eigentlich haben es Schwule nicht mehr nötig, sich auf antike oder christliche Vorbilder zu beziehen, um ihre Homosexualität zu rechtfertigen. Das Sebastian-Motiv verschwindet aber dennoch nicht. Wieder zunächst ein literarisches Zeitdokument. In Alan Hollinghursts Die Schwimmbad-Bibliothek195 geht es um schwule Liebe im Zeitalter vor AIDS. In Hollinghursts Bild der englische Gesellschaft sind historische Bezüge eingebunden, z. B. zu Oscar Wilde. Zu diesen Bezügen gehört der hl. Sebastian. Ein Künstler schwärmt dabei von seinen Sebastian-Bildern: „ ,Mir jedenfalls gefallen sie ungemein. Sie sind ein neuer Aufbruch, na ja, irgendwie neu jedenfalls, und ziemlich religiös und voller Gefühl. (...) Der junge Mann, der den Sebastian darstellte, war den Tränen nahe, als ich es ihm zeigte, so schön ist es.‘ ,Wie haben Sie das mit den Pfeilen hingekriegt?’ warf ich ein; mir war Mishimas mühseliges Posieren als Sebastian in einem Selbstportrait eingefallen. ,Oh, keine Pfeile, mein Lieber; es ist vor dem Martyrium. Er ist gänzlich undurchbohrt. Aber irgendwie sieht er bereit dafür aus, so wie ich es gemacht habe.‘ “ Im folgenden Zitat ist die phallische Bedeutung der Pfeile offensichtlich: „ ,Woher weiß man dann, daß es Sebastian ist? (...) Das einzige, woran man diesen Sebastian erkennt, sind doch die verflixten Pfeile, die er im Arsch stecken hat.‘ Das klang nicht unvernünftig.“ 1977 zeigte ein Poster, das der LP Schwul der Gruppe Warmer Südwind beigelegt war, u.a. eine Sebastian-Zeichnung. Auch in Schwulenzeitschriften wurden Sebastian noch oft zur Illustrierung verwendet. Sowohl die niederländische Zeitschrift Sek. Lesbisch- en Homoblad196 als auch die belgische Zeitschrift Tels Quels197 (siehe Abbildung 4) nahmen ihn als Motiv für Titelgeschichten. Die Zeitschrift HUK198 der Gruppe Homosexuelle und Kirche versah für einen Beitrag über restriktive kirchliche Strukturen ihr Titelblatt mit einer Sebastian-Darstellung von Il Sodoma. In anderen Zeitschriften wird auf den Sebastian-Mythos als Metapher zurückgegriffen. Ein Beispiel ist die amerikanische Schwulenzeitschrift The Advocate199 (siehe farbige Abbildung 4), die mit einer neuartigen Sebastian-Darstellung (bei der der Lendenschurz offensichtlich nur durch eine Erektion gehalten wird) aufwartet. In der Titelgeschichte „Pinklisting in the Fashion World - Aids Phobia - the Crucifixion of Gay Designers“ geht es um Rosa Listen in der Modebranche. Aufgrund der finanziellen Belastung der Unternehmer durch HIVinfizierte Mitarbeiter wendet sich die New Yorker Modewelt von ihnen ab, statt ihnen zu helfen. Der leidende Sebastian kann auch dazu dienen, das Problem der Gewalt gegen Schwule zu illustrieren. Die Nürn-berger Schwulenpost200 titelte mit einer Sebastian-Darstellung und der Überschrift „Gewalt ge-gen Schwule - Schwule und Kirche“. Durch solche Neuinterpretationen beweist das Sebastian-Motiv seine Aktualität
und Anpassungsfähigkeit. Interessanterweise wird dem Leser in all diesen Zeitschriften über den historischen St. Sebastian und seine religiöse Bedeutung fast nie etwas mitgeteilt. Eine
Ausnahme bildet die oben erwähnte Zeitschrift Sek. Die Gründe für die Wahl des Sebastian-Motivs bleiben oft unklar; oft scheint es rein assoziativ gewählt zu sein. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Einladung zu einer Disco-Nacht (1984). In Schwulenzeitschriften werden manchmal Fotos publiziert, die einen gefesselten, willenlosen, halbbekleideten oder nackten Mann, an einen Baum gelehnt oder frei stehend, zeigen. Pfeile als übliches Erkennungsmerkmal sind nicht zu sehen, ein direkter Sebastian-Bezug ist also nicht offensichtlich.201 Hier reicht die Körperhaltung aus, um den Bezug zu dem gemarterten Heiligen auf einer assoziativen Ebene doch herzustellen. Die vielfältigen Formen der Einbeziehung des Sebastian-Themas in schwules Leben der Gegenwart beweisen die Aktualität des Sebastian-Mythos. Sebastian lebt und wird uns wohl auch weiterhin erhalten bleiben – als schwuler Heiliger, der nicht schwul war. Zu diesem Fazit paßt ein zukunftsweisender Vorschlag, den wir aus Österreich gern übernehmen. Dort fand kürzlich die erste schwule Sebastian-Wallfahrt statt:
die „Rosalila Pilgerfahrt auf den Spuren unseres Schutzpatrons“.202 Köln braucht in dieser Hinsicht nicht mehr lange zurückzustehen: wer unsere Erkundungstour „Auf der Suche nach Sebastian“ (siehe Anhang 1) zu Fuß bewältigt, hat auch eine Wallfahrt hinter sich.

 

Fußnoten:

168 Fernandez, S. 148

169 Marita Keilson-Lauritz: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung. Berlin, 1997. S. 269-362

170 siehe Kapitel 1, Anm. 26

171 Der Kreis, Jg. 21 (1953), Heft 11, S. 14

172 Homosexuelle und Kirche. Heft 81, März/April 1990

173 Der Kreis, Jg. 21 (1953) Heft 11, S. 14

174 Kaye 1995, S. 649

175 ebd.

176 Michel Tournier: Saint Sébastien, in: Le Figaro, 25. Juli 1996

177 siehe Kapitel 3

178 Berlin 1914, S. 66

179 Der Eigene, Jg. 11 (1926/27), Heft 1 und 5

180 Der Eigene, Jg. 8 (1920), Heft 12, S. 136-139

181 Der Eigene, Jg 4 (1903), Heft 3, S. 174, 179

182 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 9 (1908), S. 69-168. Die Abhandlung erschien auch selbständig im Verlag Max Spohr, Leipzig 1908 (nach dieser Ausgabe wird zitiert)

183 ebd., S. 52

184 ebd., S. 66f.

185 Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum. Hamburg 1998, S. 628f.

186 Nikolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933-1945. Ein Bericht. Erweiterte Ausgabe, 13.-20. Tsd., Frankfurt/Main 1991, S. 170f. (Taschenbuchausgabe)

187 dokumentiert in dem Film „Voyage iconographique. Le martyre de Saint Sébastien“, F 1989, Regie Eric Pauwels

188 Julien Green: Der Übeltäter. München 1994, S. 163-164. Originaltitel: Le Malfaiteur, 1955. Die erste deutsche Übersetzung, erschienen unter dem Titel: In den Augen der Gesellschaft (Köln 1962), gibt eine gekürzte Fassung. Die zitierte Textpassage fehlt dort.

189 Der Kreis, Jg. 21 (1953), Heft 11

190 Hubert Kennedy: Der Kreis: Eine Zeitschrift und ihr Programm. Berlin 1999, S. 326

191 Der Kreis, Jg. 19 (1951), Heft 11

192 Der Kreis, Jg. 20 (1952), Heft 11

193 Der Kreis, Jg. 22 (1954), Heft 11

194 Der Kreis, Jg. 34 (1966), Heft 11

195 Alan Hollinghurst: Die Schwimmbad-Bibliothek. Frankfurt/Main 1994, S. 80-81

196 Sek. Lesbisch - en Homoblad. Heft 8, 1982

197 Tels Quels. Heft 120, Dez. 1993

198 Homosexuelle und Kirche. Heft 81, März/April 1990

199 The Advocate. Nr. 560. Sept. 1990

200 Nürnberger Schwulenpost. Heft 87, Febr. 1993

201 Gay Bondage. Heft 1, 1974; Don. Heft 9, 1972

202 Rosalila Buschtrommel. Heft 5, 1996, S. 21