3. „Zu sündhaften Gedanken erregt“ - St. Sebastian in der bildenden Kunst

Der Legionär
Erste Darstellungen46 des hl. Sebastian stammen aus dem 5. und 6. Jahrhundert. Es sind zwei Wandgemälde in Rom, eines davon in den Calixtus-Katakomben, und ein Mosaik in Ravenna, in der Kirche San Apollinare nuovo. Diese Abbildungen zeigen Sebastian ohne Bart - was aber nicht als Hinweis auf sein Alter zu verstehen ist. Der frühchristlichen Kunst lag Porträtgenauigkeit fern.47 Mit der Niederschrift und Verbreitung der episodenreichen Märtyrerakten (Passio Sancti Sebastiani) und der damit zusammenhängenden Ausbreitung der Verehrung Sebastians als Heiliger ist eine Entwicklung zum individuelleren Porträt festzustellen.48 Ein Mosaik in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli (wahrscheinlich von Papst Aga-tho, 678-682, gestiftet), zeigte Sebastian erstmals mit grauem Bart und Haar, in der Tracht eines kaiserlichen Offiziers.49 Dieser Bildtypus (bejahrter, bärtiger Krieger) war kennzeichnend für die Sebastian-Darstellungen während des ganzen Mittelalters, einschließlich des 14. Jahrhunderts.50 Bart und Haarfarbe symbolisierten Weisheit, die Soldatenrüstung Kraft.51 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] St. Sebastian. Glasfenster am Straßburger Dom (3. Viertel des 13. Jahrhunderts)

 

Der schöne Jüngling
Ab dem 15. Jahrhundert sind hinsichtlich der Sebastian-Darstellungen zwei Entwicklungen festzustellen: ihre Zahl nimmt zu, und der Heilige wird jünger. Als Motiv der Bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, wird Sebastian fast so populär wie Jesus und Maria.52 Für die  wachsende Zahl von Abbildungen spielte (neben der Möglichkeit der Aktdarstellung - siehe unten) die große Pestwelle von 1350, in der Sebastian zum volkstümlichen Pestheiligen wurde, eine wichtige Rolle.53 Der Zeitpunkt, zu dem der bärtige Typ durch den jugendlichen verdrängt wurde, ist nicht genau zu bestimmen. Im letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts war der „Verjüngungsprozeß“ allerdings abgeschlossen54. Sebastian wurde jetzt überwiegend als spärlich oder gar nicht bekleideter Jüngling dargestellt, der an einen Baum oder an eine Säule gefesselt und dessen Körper von Pfeilen durchbohrt ist. Für diesen Wandel dürfte einerseits der Einfluß spätmittelalterlicher Darstellungen des leidenden Christus, der an einer Säule gegeißelt und ans Kreuz geschlagen wurde, von Bedeutung gewesen sein. Nacktheit bedeutete bei Sebastian wie bei Christus am Kreuz zunächst völliges körperliches Ausgeliefertsein.55 Wichtiger, vor allem für Italien, war aber eine grundsätzlich geänderte Einstellung der Künstler und der Öffentlichkeit zum menschlichen Körper und seiner Abbildung. Die mittelalterliche christliche Kirche war durch Körper- und Sexualfeindlichkeit geprägt. Sie erlaubte nur ehelichen Geschlechtsverkehr zur Zeugung von Nachwuchs, sie verdammte jede auf Lustgewinn zielende Sexualität und untersagte die Abbildung nackter Menschen.56 In der italienischen Renaissance entstand im Rückgriff auf die Antike eine Gegenbewegung, die die bis dahin gültigen Gebote der kirchlichen Moral kaum noch beachtete. Das fand seinen Ausdruck z. B. darin, daß in dieser Zeit erstmals wieder seit dem Altertum der Bildtypus der Aktdarstellung auftrat, übrigens zunächst vornehmlich als Männerakt.
Sebastians Martyrium erlaubte den Künstlern, einen fast unbekleideten Mann darzustellen. Ein letzter Rest Stoff wurde dabei meistens, wie unrealistisch auch immer, zwischen Hüfte und Oberschenkel drapiert; er enthüllte mehr als er verhüllte. Auch den Malern der Renaissance war offensichtlich bekannt, daß völlige Nacktheit die erotische Spannung eher mindert. Wie die Schöpfer der antiken Statuen betonten die Renaissancekünstler die Schönheit des jungen männlichen Körpers; sie waren sich offensichtlich der erotischen und oft wohl auch der homoerotischen Faszination dieses Motivs bewußt.57 Nördlich der Alpen stand ein anderes Thema, der geschundene Körper des Heiligen, im Vordergrund des künstlerischen Interesses.58 Hinsichtlich der homoerotischen Aspekte der bildenden Kunst ist allgemein festzustellen, daß sie bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts von der herrschenden Kunstgeschichtsschreibung weitgehend ausgeklammert wurden.59 Das gilt auch für die homoerotischen Gesichtspunkte des Sebastian-Themas. Die ersten, die sich mit dieser Fragestellung ausdrücklich beschäftigten, waren Anfang unseres Jahrhunderts Georges Eekhood und Elisar von Kupffer. Letzterer ging in
seiner, im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen veröffentlichten Untersuchung über den homosexuellen Maler Giovanni Antonio Bazzi, genannt Il Sodoma, auch auf dessen Sebastian-Darstellungen ein.60 Kupffers großangelegtes Forschungsunternehmen zum hl. Sebastian kam leider über eine Materialsammlung und erste Textentwürfe nicht hinaus.61 Nach diesen
Anfängen befaßten sich dann James M. Saslow (1977), Will Ogrinc (1986), Hans Hafkamp (1992/93) und zuletzt Richard Kaye (1995 und 1996) ausführlicher mit den homoerotischen Aspekten des Sebastian-Motivs. Allerdings änderte sich auch in der akademischen Kunstgeschichtsschreibung seit den 70er Jahren, im Zusammenhang mit der zunehmenden gesellschaftlichen Toleranz gegenüber der Homosexualität, allmählich die Einstellung zu homosexuellen Aspekten in der Bildenden Kunst. Das Thema wurde nun zumindest nicht mehr völlig ignoriert.62 Dabei waren die (homo-)erotischen Elemente in der Renaissancekunst eigentlich gar nicht zu übersehen. Seit den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts war erotisch
erregende Nacktheit zu einem typischen und bewußt geforderten Motiv bei privaten Kunstaufträgen geworden; auch bei öffentlicher Kunst war erotische Wirkung nicht immer verpönt.63 Ab den 80er und 90er Jahren ist auch ein voyeuristisches Interesse an männlicher Nacktheit nachweisbar. Die Wünsche der Auftraggeber kamen den Künstlern gelegen: sie nahmen den Rückgriff auf das Altertum zum Vorwand, erotische Anspielungen und Aspekte in die Darstellung einzubauen64, und wenn sie, wie Sodoma, Leonardo, Michelangelo und Caravaggio, um nur einige zu nennen, homo- oder bisexuell empfanden65, dann finden sich in ihren Werken eben auch Elemente, die mannmännlich orientiertes Interesse ansprechen.

Neben antiken Göttern und Helden boten sich hier die christlichen Heiligen Sebastian und Johannes der Täufer an, besonders wenn Gemälde, die sie zeigten, aus dem Zusammenhang der Kirche herausgelöst waren und als Einzelbilder in Privaträumen hingen. Religiöser Bildgedanke und weltliche Absicht oder Deutung lassen sich ohnehin nur selten säuberlich trennen.66 Aber auch in Kirchen und Kapellen vermischten sich Andacht und erotischer Kunstgenuß.67 Der Schriftsteller Vasari berichtete über die Aufstellung eines Sebastian-Gemäldes: „Als aber dieses Werk in der Kirche ausgestellt war, fanden die Mönche in den Beichten, daß die Frauen beim Anblick desselben durch die reizende und sinnliche Darstellung des Lebens, welche Fra Bartolomeos Talent hier erreicht hatte, zu sündhaften Gedanken erregt worden waren“.68 Es wäre verwunderlich, wenn der betreffende Anblick nur Frauen sündhaft erregt hätte.

Der hl. Sebastian wurde oft als androgyner oder sogar femininer Jüngling von griechischer Anmut und gleichsam apollinischer Schönheit69 dargestellt, manchmal als passiver Dulder, manchmal unverkennbar mit einem Gesichtsausdruck, der die Hinrichtung durch Pfeilschüsse als Weg zur Seligkeit akzeptierte. Er entsprach damit ziemlich genau dem Typ von Mann, auf den sich homoerotisches Begehren damals richtete: auf den jüngeren, femininen, passiven Mann. Je mehr ein junger Mann in Aussehen und Verhalten diese Vorgaben erfüllte, umso mehr entsprach er dem griechischen Ideal, umso geringer war für jemanden, der ihn begehrte, die Abweichung von der herrschenden Sexualnorm.70 „Apollinische Schönheit“ bedeutete aber nicht nur schön wie Apoll, der Gott der Schönheit, sondern war auch eine den Gebildeten damals geläufige Anspielung auf Apolls Bisexualität.71 Paar-Darstellungen Sebastians mit Christus bekamen vor diesem Hintergrund eine neue Dimension.72 Wie weit sie vom Maler intendiert war oder sich nur dem Auge bestimmter Betrachter erschloß, bleibt dabei offen. Den Märtyrer Sebastian, der mit verklärtem Blick leidet, porträtierten z.B. Tintoretto, Mantegna, Tizian und Il Sodoma, um nur einige zu nennen. Spätere Kunsthistoriker und Kunstliebhaber sahen in der Passion des Heiligen ein Beispiel „pervertierter“ Erotik.73 Eduard Fuchs, der sich um die Erforschung der erotischen Kunst und erotischer Bezüge in der Kunst sehr verdient gemacht hat, verbucht den brutalen Pfeilbeschuß ganz offen unter der Rubrik Sadomasochismus.74 Ob diese modernen Kategorien die Intentionen der Künstler zutreffend wiedergeben, ist allerdings fraglich.


Triumph der Kirche
Mit der Gegenreformation, deren Programm auf dem Konzil von Trient (1545-1563) formuliert wurde, widersetzte sich die katholische Kirche dem Ansturm des Protestantismus und festigte sich neu. Auch hinsichtlich dessen, was in der Kunst erwünscht und erlaubt war, begann eine Gegenbewegung. Die Renaissancekunst wurde durch das Barock abgelöst. Für die Sebastian-Darstellungen bedeutete das einen Niedergang: sie nahmen an Zahl wie an symbolischem Gehalt ab.75 Sebastian als Schutzpatron gegen die Pest rückte ins Zentrum des Interesses, oft zusammen mit anderen Pestheiligen wie dem hl. Rochus. Vielfach wurde Sebastian wieder als Soldat in antikisierender Rüstung gemalt; er verkörperte so die streitbare und (zumindest im Süden und Teilen Mitteleuropas) siegreiche Kirche. Ein neues Bildmotiv war die Pflege des Heiligen durch die hl. Irene (Georges de la Tour) oder die Versenkung und Bergung des Leichnams.76 Die Pflege des Heiligen zeigt Sebastian mit Irene und einer oder mehreren Helferinnen. Die Frauen entfernen vorsichtig die Pfeile und lösen die Fesseln. Die Parallele zur Abnahme Christi vom Kreuz ist offensichtlich: der Märtyrer ist Nachfolger Christi und nicht mehr als schöner Jüngling Objekt menschlicher Begierde.77 Der Barockkunst zuzurechnen ist allerdings auch Guido Reni. Seinem heute in Rom gezeigten St. Sebastian (siehe farbige Abbildung 2) fehlt es offensichtlich nicht an erotischer Ausstrahlung. Anders ist die Wirkung, die dieses Bild bis in die Gegenwart auf Homosexuelle ausübt, kaum zu erklären.


Leiden des Künstlers – Leiden der Welt – Leiden der Schwulen
Sebastian gehört zu den wenigen christlichen Bildmotiven, die in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert eine Wiederbelebung erfuhren. Er verkörpert für den modernen Künstler allerdings nicht mehr den Heiligen und Nothelfer gegen die Pest, was nicht heißt, daß religiöse Bezüge ganz aufgegeben sind. Es geht den Künstlern, die sich mit Sebastian und seinem Martyrium befassen, auch nicht um das bloße Zitieren historischer Vorbilder, was sich schon darin zeigt, daß Ironie und Verfremdung wesentliche Darstellungsmittel sind. Sebastian fungiert überdies (außer vielleicht in unserem Jahrhundert bei homosexuellen Künstlern) weniger als Objekt erotischer Begierde, obwohl auch die von der Kunstgeschichte vorgegebenen erotischen Implikationen der Darstellung eines gemarterten schönen Jünglings nicht übersehen werden. Im Vordergrund moderner Beschäftigung mit dem Sebastiansthema stehen persönliche Erfahrungen und subjektive Empfindungen. Sebastian personifiziert sowohl Entfremdung und Leid des Künstlers wie auch das Leiden der Welt, zugleich aber auch die Hoffnung auf Leidens- und
Lebensbewältigung und Erlösung durch die Kunst. Das Leid wird angenommen, als bewußtseinsfördernd akzeptiert und damit produktiv gewendet.78 Entsprechend den neuen Mitteln der Bildkunst treten im 20. Jahrhundert gegenständliche Darstellungen zugunsten von Andeutung und Umschreibung zurück. Angesichts der Bedrohung des Menschen durch moderne Technik und Massenvernichtungswaffen wirken die Nacktheit des Märtyrers und die ihn durchbohrenden Pfeile verharmlosend und anachronistisch. Entspre-chend werden die Pfeile durch tödliche Strahlen (Christian Schad), Thermo-meter (Salvador Dali) oder Flugzeuge (Frans Mase-reel), der Körper des Heilgen durch maschinen-betriebene Sebastian-Erfindungen (Curt Stenvers, Günter Weseler) oder apparatehafte Symbiosen aus zivilisatorischen und organischen Fundstücken (Richard Mortensen, Sal-vador Dali) ersetzt. Der christliche Mythos erweist so seine Wandlungsfähig-keit und Aktualität auch in unserem Jahrhundert.79 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Frans Masereel: Sint Sebastiaan. Holzschnitt (1951)

Vor allem in unserem Jahrhundert fand der Heilige wegen seines Märtyrertums und der Möglichkeit einen (fast) nackten Jüngling zu porträtieren, auch Beachtung in Kreisen homosexueller Männer. Der schöne Körper und die grausame Folter eines jungen Mannes bildeten den Ausgangspunkt einer neuen Blüte der Sebastian-Darstellungen80. Eine Reihe homo- oder bisexueller Künstler haben dieses Motiv aufgegriffen, um ihre eigene Situation darzustellen. Als Künstler oder als Schwuler oder als schwuler Künstler sahen sie sich den Angriffen einer feindlichen Umwelt ausgesetzt. Zu nennen wären hier Salvador Dali und Federico García Lorca oder Pier Paolo Pasolini (siehe Abbildung 1). An sich ist an einem Gemälde oder der Zeichnung eines ansehnlichen, von Pfeilen durchbohrten jungen Mannes nicht notwendig etwas Schwules. Manche Künstler ergänzten ihr Sebastian-Bild denn auch um verdeutlichende Details: Alfred Courmes malte Sebastian 1934 als Matrosen, Marsden Hartley charakterisierte seinen Sebastian 1939 mit Tattoos (u.a. eines Matrosen und eines Muskelmannes). Dieses Bild wurde seinerzeit allerdings als so provozierend empfunden, daß man dem Künstler riet, es nicht öffentlich zu zeigen.81 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Federico García Lorca: San Sebastián (1927) Ein weiterer Aspekt machte Sebastian für einen bestimmten Teil der schwulen Männer über das bereits Gesagte hinaus interessant: der Heilige, von Pfeilen durchbohrt, wurde zum Objekt sadomasochistischer Phantasien. Natürlich war es nicht das Ziel der Verfasser christlicher Heiligenerzählungen und religiös inspirierter Künstler, SM-Gedanken zu stimulieren. Möglicherweise waren aber die Legenden über das tapfere Ertragen von Schmerzen und die wirklichkeitsnahen Abbildungen (unbeabsichtigterweise) eines der Elemente, die der modernen Einstellung zum Sadomasochismus den Weg bereitet haben82. Es fehlt denn auch in der Kunst der Gegenwart nicht an Beispielen für entsprechende Interpretationen des Schicksals des Heiligen. Genannt seien Klaus Bodanza (Sebastian in Leder) oder Jannis Tsarouschis.83 Der Weg ist weit vom Mosaik in den römischen Katakomben zur Identifikationsfigur der schwulen Lederszene; deutlich wird aber, daß die Sebastian-Thematik sicher einer der interessantesten Motiv-Kreise der Kunstgeschichte ist.

 

Der Maler der Schönheit - Giovanni Antonio Bazzi, genannt Il Sodoma
Der italienische Maler Giovanni Antonio Bazzi (1477 – 1549), lebte und arbeitete vorwiegend in Siena und Rom. Er war gutaussehend und charmant und liebte es, sich vornehm bis extravagant zu kleiden und exotische Tiere, z. B. Affen, zu halten. Sein Dandytum war Vorbild für die Jugend Sienas, brachte ihm allerdings nicht nur Bewunderung ein, vor allem da Sienas Bürgern seine sexuellen Neigungen mißfielen. Giorgio Vasari, dem wir viele wichtige Informationen über die Künstler der Renaissance verdanken, berichtete über ihn: „Er hatte immer Knaben und ganz junge Leute bei sich, die er mißbrauchte, weshalb er Soddoma genannt wurde“. „Soddoma“ bedeutete, daß er aus Sodom stamme, der Stadt, die nach dem Alten Testament von Gott wegen ihrer Laster, u.a. der gleichgeschlechtlichen Liebe, vernichtet worden sein soll. Für die damalige Zeit lebte Sodoma seine Homosexualität erstaunlich offen aus, denn er übernahm, was als Schimpfwort gedacht war, selbstbewußt als Eigenbezeichnung und unterzeichnete sogar offizielle Dokumente wie Verträge und seine Steuererklärung mit „Sodoma“. Was nach traditionellen Moralvorstellungen Sünde und Gotteslästerung war, fanden seine Auftraggeber, darunter Papst Leo X., zumindest bei einem Künstler akzeptabel. Sodomas homoerotischen Neigungen lassen sich auch in seinen Werken nachweisen. Seine Alexanderhochzeit enthält in den Personen und ihrer Zuordnung zueinander Anspielungen auf Homo- und Bisexualität; seine Szenen aus dem Leben des hl. Benedikt zeigen u.a. zwei Mönche in einem Bett und die Darstellung zweier Jünglinge aus demselben Zyklus (Rückenansicht in knappsitzenden Beinkleidern) macht die erotischen Phantasien des Malers offenbar. Mindestens sechsmal findet sich der hl. Sebastian auf Gemälden Sodomas abgebildet. Am bekanntesten davon ist wohl der Hl. Sebastian, der sich heute im Palazzo Pitti in Florenz befindet. Der Heilige steht vor einer hügeligen Phantasielandschaft an einen Baum gefesselt, ein fast durchsichtiges Lendentuch um seine Hüften geschlungen, von drei Pfeilen getroffen, den Blick zum Himmel gerichtet. Über ihm schwebt, offenbar Tribut an den Zeitgeist, ein Engel, der ihm die Märtyrerkrone aufsetzt. Il Sodoma gehörte vielleicht nicht zu den größten Künstlern seiner Zeit, seine Fähigkeit, Schönheit darzustellen, wird aber von vielen hervorgehoben, von wenigen bestritten. Literatur: Albert Jansen: Leben und Werke des Malers Giovannantonio Bazzi von Vercelli, genannt Il Sodoma. Stuttgart 1870; Elisar von Kupffer: Giovan Antonio - Il Sodoma, der Maler der Schönheit, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 9 (1908), S. 71-167; Andrée M. Hayum: Giovanni Antonio Bazzi, „Il Sodoma“. New York, London 1976; Andreas Sternweiler, in: Lust der Götter. Berlin 1993, S. 161-172

 

Der göttliche Guido - Guido Reni
Guido Reni (1575 - 1642) war ein wichtiger Vertreter des Bologneser Barock. Er gehörte wegen seiner eindringlichen und ausdrucksvollen Bilder zu den beliebtesten und am besten bezahlten Künstlern seiner Zeit. Seine Frömmigkeit hinderte ihn nicht, Wert auf teure, modische Kleidung zu legen (im Sommer trug er Seide, im Winter Samt); sonst lebte er aber bescheiden. Einziges Laster war die Spielsucht. Er haßte die Frauen (außer seiner Mutter und der Jungfrau Maria),
blieb folglich unverheiratet und starb angeblich sexuell unerfahren. Frauenhaß hielt ihn nicht davon ab, schöne Frauen zu malen; auffällig ist die große Zahl von Bildern mit Frauen, die Selbstmord begingen. Seine männlichen Figuren zeichnet ein anmutiger, androgyner Charakter aus, der sie so anziehend für manche schwulen Männer macht. Am bekanntesten ist sein St. Sebastian (um 1615), heute im Kapitolinischen Museum in Rom: ein femininer Jüngling mit engelgleichem Gesicht und prächtigen Locken, die Arme über dem Kopf an einen Baum gefesselt. Drei Pfeile stecken im Körper, Blut ist kaum zu sehen: ein christlicher Apoll, für viele Betrachter ein ideales Abbild der Schönheit. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Guido Reni als Frau mit Turban, Kupferstich. Guido Reni porträtierte sich selbst als Frau mit Turban. Zusammen mit den übrigen Hinweisen (sexuelle Unerfahrenheit, Frauenhaß, androgyne Bildcharaktere) macht das eine homosexuelle Veranlagung wahrscheinlich; es gibt dafür aber keine Belege, obwohl wir durch die Biographie Carlo Malvasias, der Reni noch selbst kannte, über ihn besser informiert sind als über andere Künstler seiner Zeit. Literatur: Richard E. Spear: The „divine“ Guido. Religion, sex, money and art in the world of Guido Reni. New Haven (Conn.) 1997; Guido Reni und Europa. Ruhm und Nachruhm. Ausstellungskatalog. Frankfurt/Main 1988; Carlo C. Malvasia: The life of Guido Reni. Princeton 1980

 

Das Geheimnis des Salvador Dali - Salvador Dali und Federico García Lorca
Von 1929 bis zu ihrem Tod 1982 gab es im Leben Salvador Dalis (1904-1989) nur eine Frau, seine Ehefrau und inspirierende Muse Gala. Bevor Dali Gala kennenlernte, war eine andere Beziehung für ihn wichtig und, daß er Gala heiratete, kann durchaus als Flucht vor den Konsequenzen dieser anderen Beziehung, nämlich der Zuneigung zu einem Mann, gedeutet werden. Dieser Mann war der Schriftsteller Federico García Lorca (1898-1936). Die Zeit ihres intensivsten Kontaktes, das Jahr 1927, stand für Dali und Lorca unter dem Zeichen des hl. Sebastian. In diesem Jahr entstanden je zwei Sebastian-Zeichnungen Lorcas und Dalis und Dalis Sebastian-Essay. Lorcas Sebastian-Zeichnung und ein von ihm zeichnerisch bearbeitetes Foto in
Sebastian-Pose drückten in Haltung und Blicken Trauer und ängstliche Erwartung der Zukunft aus. Er stellte sich als Sebastian so dar, wie Dali ihn in seinem Essay beschrieb: „Oben fand ich Sebastian an einen alten Kirschbaumstamm gebunden. Seine Füße berührten ein zerbrochenes Kapitell.“ Dali verfügte offenbar, was auch seine Zeichnungen ausdrücken, über die Fähigkeit, seine Lebensprobleme durch Distanz und Ironie erträglich zu machen. Beide Künstler empfanden sich als Opfer, die an sich selbst und einer feindlichen Umwelt litten. Lorca sah sich als „niño y niña – Junge und Mädchen“ und war sich bewußt, was das im sexuell intoleranten Spanien der zwanziger Jahre bedeutete: ein Leben als Außenseiter, das ihn zum Märtyrer seines ihm zugefallenen Wesens werden ließ (daß er 1936 im spanischen Bürgerkrieg tatsächlich ermordet wurde, hatte allerdings eher politische Gründe). Dali litt unter seiner Liebe zu Lorca, gleichzeitig an den Pfeilen des Argwohns und des Widerwillens, die den Freund trafen und verletzten. Während Lorca zu seinen Gefühlen stand, schaffte es Dali, sie, zumindest nach außen, zu unterdrücken. „In meinem San Sebastian erinnere ich mich sehr an dich, und zuweilen scheint es
mir, daß du das bist“, schrieb Dali an Lorca und unterschrieb mit „von deinem heiligen Sebastian“. Dali bezog sich in dem Brief auf seine erste Auseinandersetzung mit dem Sebastian-Thema, den Essay, den er Lorca widmete und in dem er seine Kunstauffassung darlegte. Zum letzten Mal griff er das Motiv 1982 auf, damals 78 Jahre alt. Das Thema Sebastian und offensichtlich Lorca, sein Sebastian, beschäftigten Dali das ganze Leben hindurch. Belegt wird das
durch Zeichnungen und Gemälde, die zwischen 1927 und 1982 entstanden, wie z.B. Saint Sébastien androgyne (1943): brutale Männlichkeit quält ihr Opfer zu Tode, während eine gesichtslose Gestalt abseits dem rohen Treiben zusieht. Der Freund wird ermordet und niemand hilft. Literatur: Salvador Dali: Das geheime Leben des Salvador Dali. München 1984; Ian Gibson: Federico García Lorca. Frankfurt/Main 1991; Rolf Blaeser: Federico García Lorca als Zeichner. Köln 1985

 

Fußnoten:

46 Grundlegende Darstellungen zum Sebastian-Thema in der Kunstgeschichte: Kraehling, Hadeln, Heusinger, Castillo, Saint Sébastien dans l´histoire de l´art

47 Hadeln, S. 1

48 ebd.

49 ebd., S. 1f.

50 ebd., S. 3f.

51 Pinxteren, S. 108

52 Saslow, S. 58

53 siehe Kapitel 1

54 Hadeln, S. 4

55 Lexikon der Kunst, Bd. VI. Leipzig 1994, S. 434; Heusinger, S. 16

56 Philippe Ariès u.a.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Frankfurt/Main 1984, S. 83

57 Lexikon der Kunst (Anm. 9), S. 434; Saslow, S. 63

58 Lexikon der Kunst (Anm. 9), S. 434; Heusinger, S. 16- 23 -

59 Andreas Sternweiler: Die Lust der Götter. Homosexualität in der italienischen Kunst. Von Donatello zu Caravaggio. Berlin 1993, S. 15-23

60 Kupffer (Vorwort, Anm. 3), zu Kupffer siehe auch Kapitel 7 und 8

61 Heusinger:, S. 92, Anm. 92; Sternweiler (Anm. 13), S. 17; Antje von Graevenitz: Hütten und Tempel. Zur Mission der Selbstbesinnung, in: Katalog Monte Verità - Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Ascona 1978, S. 85-98

62 hinsichtlich des Sebastian-Themas siehe z.B.: Heusinger

63 Sternweiler (Anm. 13), S. 114

64 Heusinger, S. 19

65 auf die Problematik der Übertragung dieser modernen Begriffe auf die Renaissance will ich nur hinweisen; zu einer Erörterung fehlt der Platz

66 Heusinger, S. 19

67 Sternweiler (Anm. 13), S. 115

68 Heusinger, S. 92, Anm. 34; Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetesten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Stuttgart, Tübingen 1843, Bd. III, 1. Teil. Reprint. Worms 1988, S. 121

69 Siegerist

70 Sternweiler (Anm. 13), S. 11

71 Kraehling, S. 28; Saslow, S. 61f.

72 ebd., S. 60f.

73 Heusinger, S. 19

74 Eduard Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst. Bd. III. München 1926, S. 297ff.

75 Saslow, S. 58

76 Lexikon der Kunst (Anm. 9), S. 434

77 Heusinger, S. 18f.

78 Heusinger, S. 9-22; Pinxteren, S. 113

79 Heusinger, S. 13; Abbildungen aller in diesem Abschnitt genannten Kunstwerke

ebd., Abbildungsteil

80 Pinxteren, S. 114

81 Kaye (1996), S. 87

82 Wayne Dynes: Sadomasochism, in: Encyclopedia of Homosexuality, Bd. 2. New York 1990, S. 1145f.

83 Abbildungen in: Saint Sébastien dans l´histoire de l´art, S. 180 178