4. „Aber dieser Schmerz ist so schön“ - St. Sebastian in der Literatur

August von Platen
Im Herbst 1824 hielt sich August von Platen, damals 28 Jahre alt, für einige Wochen in Venedig auf. Von Deutschland war er enttäuscht, weil seine dramatischen Arbeiten zu wenig beachtet wurden, vor allem aber, weil es ihm dort versagt schien, für seine Art der Liebe, die Liebe zu Männern, Erfüllung zu finden. In Venedig begegnete ihm, was sein weiteres Leben entscheidend beeinflussen sollte. Unter den Arkaden des Markusplatzes boten damals junge Männer ihre Gunst gegen Geld an, und Platens Biographen vermuten, daß er hier seine ersten sexuellen Erfahrungen machte.84 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] August Graf von Platen Hallermünde. Ebenso wichtig wie die Einführung in die Freuden des Geschlechtslebens war für Platen vermutlich ein anderes Erlebnis. In sein Tage-buch trug er zum 19. September ein: „Alessandro Vittoria (...) interessierte mich wenig, bis ich hier seinen heiligen Sebastian sah. Diese herrliche, von Schmerz zurückgebeugte Gestalt, mit dem Pfeil in der Brust, ergreift unmittelbar und lebendig.“85 Am 30. Oktober hielt er fest: „Wie ganz anders hat der alte Maler Buonconsigli den Sebastian aufgefaßt als Paolo Veronese. Bei jenem ist bloß irdischer Schmerz, ohne himmlische Beruhigung; aber dieser Schmerz ist so schön.“86 In den Venetianischen Sonetten, lyrisches Ergebnis seines Venedig-Aufenthalts, beschrieb er seine Gefühle angesichts Veroneses Sebastian so: „Und o wie lernt sich ird’scher Schmerz besiegen
Vor Paolos heiligem Sebastiane!“87 Platen geriet, wie die Zitate belegen in Venedig völlig in den Bann des hl. Sebastian. Er suchte nahezu jede Sebastian-Darstellung auf, die in dieser Stadt zu finden war, und diese Suche setzte er für den Rest seines Lebens fort. In seinem berühmtesten Gedicht, Tristan88, nennt er den Grund: „Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!“ Wer der Schönheit begegnet (ob in der Kunst oder im Leben, hier vor allem in der Gestalt schöner, meist unerreichbarer junger Männer), wird für die Schönheit leiden; aus ihm wird gleichsam ein hl. Sebastian. Platen fühlte sich als Märtyrer der Schönheit und wahre Schönheit sah er im jungen Mann verkörpert. Sein Leben war bestimmt von dem vergeblichen Streben nach diesem Ideal. Seinen Tagebüchern vertraute er seine Gefühle an, der Öffentlichkeit konnte er sie nur verschlüsselt in Gedichten mitteilen.89


Vor Platen
Platens Leidenschaft stand am Anfang der homoerotisch inspirierten Aneignung des hl. Sebastian, nicht aber am Anfang der literarischen Beschäftigung mit diesem Heiligen. Schon die Passio San Sebastiani des 6. Jahrhunderts und die Sebastian-Erzählung in der Legenda aurea sind nicht der Geschichtsschreibung, sondern, wie oben gesagt90, der religiösen Literatur zuzurechnen. Eine erste Erwähnung des hl. Sebastian in der nicht-religiösen Literatur und zugleich erstmals in homoerotischem Zusammenhang findet sich bei dem italienischen Autor Francesco Berni (gestorben 1535 in Florenz). In seiner Knabenburleske klagte er, daß es keine Mäzene mehr gäbe: „Dabei, zum Teufel, könnten unsre Gönner uns biedre Kerle leicht zufriedenstellen. Wär´ das nicht einmal eine schöne Geste? Doch weiß ich gut, warum sie das nicht tun. Denn wenn sie einen frischen Jungen finden, Dann halten sie ihn fest, sie wollen selber Ihm unter seine heiße Gürtellinie. So geht´s - wer keinen hat, hat Pech gehabt! Da hilft kein Heiliger Sebastian!“91
Eine Verbindung zwischen dem hl. Sebastian und dem pädophilen Begehren des Autors besteht nicht. Immerhin belegt das Zitat, daß der Heilige als Helfer, vielleicht sogar in sexueller Not, populär war. In Shakespeares Was ihr wollt (1600-1602) bekannte Antonio seine heilige Liebe („sanctity of love“) zu Sebastian, einem jungen Edelmann. Abgesehen davon, daß es mehr als fraglich ist, ob diese Liebe tatsächlich gleichgeschlechtliches Begehren bedeutete, ist auch hier außer der Namensgleichheit keine Verbindung zu dem heiligen Märtyrer zu sehen.92 Der spanische Dramatiker Calderon de la Barca (gestorben 1681) beschrieb Sebastian wie vor ihm Giorgio Vasari als Objekt heterosexuellen Begehrens, als er die anziehende Wirkung des mit Pfeilen bedeckten Jünglings auf die Frauen hervorhob.93


Nach Platen
Für die Zeit nach Platen, etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts, lassen sich hinsichtlich der literarischen Verwendung des Sebastian-Motivs mehrere Traditionslinien beschreiben: zunächst die religiöse Erbauungsliteratur, historische Erzählungen und Romane zur Belehrung und Unterhaltung des Bildungsbürgertums und zeitkritische Aktualisierungen des Themas. Dann, beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts und parallel mit Entwicklungen in der Kunstgeschichte die Verwendung Sebastians als Bild für den an der Kunst und der Welt leidenden Künstler oder Menschen. Schließlich, von dem Vorgenannten nur teilweise zu trennen, die homosexuelle Aneignung des hl. Sebastian, die, von Platen abgesehen, ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, in unserem Jahrhundert dann ein wichtiges Element der Sebastian-Literatur wurde.


Kämpfer für das Christentum
Als Beispiel für den religiös begründeten Zugang zum Sebastian-Thema sei der Roman Fabiola oder Die Kirche der Katakomben des englischen Kardinals Nikolaus Wiseman genannt. Geschrieben 1854 für eine katholische Volksbibliothek im anglikanisch dominierten England, erzählte Wiseman das Schicksal einer Gruppe von Christen während der letzten großen Verfolgung unter Kaiser Diokletian. Einer von ihnen war der Offizier Sebastianus, ein tatkräftiger, mutiger Glaubenskämpfer, gleichsam General auf dem Schlachtfeld gegen das Heidentum. Wiseman setzte seinen Sebastian bewußt ab von den verweichlichten, passiven Jünglingen der Renaissance-Maler.94 Er übernahm in seinem Roman eine seinerzeit durchaus verbreitete Sichtweise, wie sie unter anderem auch Charles Dickens teilte. Dickens, der 1844 Rom besuchte, mißfiel, daß Sebastian ein so beherrschendes Motiv in der italienischen Kunst war und beklagte die Begeisterung, ja geradezu Verzückung der Kritiker diesem Motiv gegenüber, die unvereinbar sei mit der wahrhaftigen Würdigung wirklich großer Kunstwerke. Er sprach es nicht deutlich aus, aber könnte es nicht sein, daß seine Kritik nicht der Einstellung gegenüber dem Kunstwerk, sondern der Begeisterung für die Abbildung eines anziehenden jungen Mannes galt?95 Wenig später wies Lord Lindsay in seinen Sketches in the History of Christian Art (1847) lobend auf eine Reihe von Fresken aus dem 14. Jahrhundert hin, die Sebastian nicht als feurigen („hot“), enthusiastischen Jüngling, sondern als reifen, umsichtigen Mann darstellten.96 Weitere Beispiele für Behandlungen des Themas, die von religiösem oder historischem Interesse bestimmt sind, seien nur kurz angesprochen. Herbert Eisenreich beschrieb in seinem Dialog Sebastian97 das Schicksal des Märtyrers aus der Sicht zweier heidnischer Soldaten, die der Tapferkeit des gläubigen Christen ihre Anerkennung nicht versagen. Andere Autoren griffen nicht mehr auf die Heiligenlegende zurück, sondern verwendeten die Person oder den Namen symbolisch. Isolde Kurz erörterte in ihrer Renaissance-Novelle Der heilige Sebastian98, an ein Sebastian-Gemälde anknüpfend, den Dualismus zwischen irdischer Liebe und antik-heidnischer Sinnlichkeit einerseits und christlicher Liebe zum Heiligen als dem wahrhaft Schönen andererseits. Irdische Liebe und Sinnlichkeit führen allerdings ins Verderben. In Hans Francks Sebastian. Ein Gottsucher-Roman99 wird der Sohn eines Wollwebers, weil er am 20. Januar geboren wurde, Sebastian genannt. Sein Leben im Zeitalter der Reformation war ein einziger Kampf um den richtigen Weg zu Gott.

 

Zeitkritische Aktualisierungen
Einige Autoren unseres Jahrhunderts bemühten sich um zeitkritische Aktualisierungen des Sebastian-Themas. Franz Herwig zum Beispiel erzählte in Sankt Sebastian vom Wedding100 von einem Mönch, der gegen die linken Aufrührer der frühen Weimarer Republik die Lehre von der Feindesliebe predigte und lebte. Er scheiterte an der Aggressivität und Verstocktheit seiner Mitmenschen und endete, gefesselt an eine Straßenlaterne, durch die Pistolenkugeln einer Hure.
August Schnack sah in seinem Heimatroman Sebastian im Wald101 den Ausweg aus den Problemen der Gegenwart weniger in der Religion als in der Flucht in die Waldidylle. Bei Erica Pedretti (Sebastian102) löste eine scheinbar lebende barocke Sebastian-Statue Erinnerungen an persönliches Leid während des Zweiten Weltkriegs und auf der Flucht aus. Realität und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit sind untrennbar vermischt. In den religiös orientierten wie in den historisch oder zeitkritisch angelegten Bearbeitungen des Sebastian-Themas spielte insgesamt die Anziehungskraft und erotische Wirkung der Person des Heiligen eine untergeordnete Rolle. Das liegt an der Intention der Autoren und daran, daß sie Sebastian in Abläufe und Zusammenhänge einordnen, denen genau dieser Reiz weitgehend fehlt. Der bildende Künstler greift eine Szene aus dem Zusammenhang, in unserem Fall häufig den gefesselten schönen Jüngling, und erzielt damit einen Effekt, den eine literarische Darstellung kaum erreichen kann. Lyrische Bearbeitungen kommen der Bildenden Kunst dabei noch am nächsten. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Pierre Alechinsky: Le poète assassiné (1948).


Leiden als Schicksal
Um die Jahrhundertwende breitete sich in der europäischen Kultur eine Stilrichtung aus, die Fin de Siècle, Ästhetizismus, Dekadenz oder Symbolismus genannt wird. Ob die Begriffe deckungsgleich sind, braucht hier nicht erörtert zu werden. Nicht alle im Folgenden behandelten Autoren sind diesen literarischen Richtungen zuzuordnen; einige gehören aber zu ihren Hauptvertretern (z.B. Wilde, Pater oder D´Annunzio). Bei den meisten anderen sind zumindest Verbindungen feststellbar. Gemeinsam ist vielen Beispielen, daß das Sebastian-Motiv, wie oben schon dargelegt103, aus dem religiösen Zusammenhang gelöst ist. Es wurde verwendet, um den Kampf des Künstlers, seine Einsamkeit und sein Leiden, oder, umfassender, das Leiden der Menschen und der Welt abzubilden. Da wichtige Autoren dieser Zeit, die sich mit Sebastian beschäftigt haben, homo- oder bisexuell veranlagt waren, begann um diese Zeit auch die eigentliche homosexuelle Aneignung des Sebastian-Themas. Der französische Schriftsteller Anatol France stand als antiklerikaler Rationalist persönlich der Dekadenz des Fin de Siécle eher fern, war aber ein meisterhafter Schilderer der Gesellschaft seiner Zeit. Er stellte in seinem Roman Die rote Lilie
(1894)104 Sebastians Bezug zum Christentum offen in Frage. Eine Figur seines Romans läßt er sagen: „Was mir besonders auffällt, ist die Sinnlichkeit dieser Kunst des Quattrocento, des sogenannten frommen Jahrhunderts (...) Die Jungfrauen und Engel sind wollüstig, kokett und mitunter von einer naiven Verderbtheit. Was haben sie denn Frommes an sich, diese jungen Heiligen Drei Könige, die schön wie Frauen sind; der von Jugend strotzende Sankt Sebastian, der eher einem schmerzensreichen christlichen Bacchus gleicht?“105 Zur Erläuterung: Bacchus war
der römische Gott der Fruchtbarkeit, des Weins und der Ekstase. Ein Verweis auf die christliche Tradition fehlt auch bei Rainer Maria Rilke, wenn man vom Titel absieht:106
„Sankt Sebastian
Wie ein Liegender so steht er; ganz
hingehalten von dem großen Willen.
Weit entrückt wie Mütter, wenn sie stillen,
und in sich gebunden wie ein Kranz.
Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt
Und als sprängen sie aus seinen Lenden,
eisern bebend mit den freien Enden.
Doch er lächelt dunkel, unverletzt.
Einmal nur wird seine Trauer groß,
und die Augen liegen schmerzlich bloß,
bis sie etwas leugnen, wie Geringes,
und als ließen sie verächtlich los
die Vernichter eines schönen Dinges.“
Rilke, wahrscheinlich von einem Botticelli-Gemälde in Berlin angeregt107, zeigt einen heroischen Sebastian, gelassen trotz der Schmerzen. Für Rilke ist der Schmerz „Rückweg ins Freie“ und erhält dadurch einen Sinn.108 Ungewöhnlich ist das Bild der aus den Lenden springenden Pfeile. Aus den Lenden springt der Phallus – sollte Rilke eigentlich an ihn gedacht haben? Eine der wenigen Ausnahmen, was den Bezug zur Religion betraf, war Georg Trakl. Sebastian im Traum war der Titel der zweiten Gedichtsammlung des Autors, im Jahr 1915 nach Trakls frühem Tod an der Ostfront (vermutlich Selbstmord) erschienen. Darin findet sich auch ein Gedicht mit dem gleichen Titel.109 Das lyrische Ich ist Sebastian, ein in Träumen befangener Knabe. Diese  Traumverlorenheit beschreibt Trakl an anderer Stelle als Zug seines eigenen Wesens. Der träumende Knabe muß sterben; es gibt bei Trakl, zumindest in den mittleren und späten Gedichten keine Hoffnung. Individuelle Rettung ist nur vorläufig, sie bewahrt nicht davor, in den allgemeinen Untergang hineingerissen zu werden.110 Obwohl Trakl seine Gedichtsammlung Sebastians Traum nannte, ist ihr Bezug zum Sebastian-Mythos nur mittelbar: in Christus und Sebastian sah Trakl Prototypen und Identifikationsfiguren asketischen Lebens und stellvertretenden Leidens und Erlösens, was mit Trakls Vorstellung vom Dichter im Einklang stand. Wie Sebastian sich für seinen Glauben (oder für die Schönheit) opfert, opfert der Dichter sein Leben für die Kunst.111 Oscar Wilde und das Leiden der Homosexuellen
„The Grave of Keats (...) The youngest of the martyrs here is lain, Fair as Sebastian, and as early slain.“ „Keats’ Grab (...)
Der jüngste Märtyrer liegt hier im Feld, Schön wie Sebastian, früh wie er gefällt.“112 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Titelblatt einer anonymen Satire auf Oscar Wilde (1882), die ihn als Anhänger des Ästhetizismus verspottete. Oscar Wilde, schrieb diese Verse 1877 bei einem Aufenthalt in Rom. Im Zentrum von Keats´ Werk, der 1821 mit nur 26 Jahren in Rom an Tuberkulose gestorben war, stand der Widerspruch zwischen der Endlichkeit des menschlichen Lebens und dem deshalb unerreichbaren Ideal der Schönheit. Nicht nur Oscar Wilde assoziierte bei diesem Problem, das er im übrigen später selbst in seinem Dorian Gray aufgriff, den Namen Sebastian. Zur Veröffentlichung des Gedichts verfaßte Wilde folgende Anmerkung: „Als ich am armseligen Grab dieses göttlichen Knaben stand, stellte ich ihn mir als einen zu früh dem Tod anheimgegebenen Priester der Schönheit vor; und mit einem Mal tauchte vor meinem geistigen Auge Guidos heiliger Sebastian auf, so wie ich ihn in Genua gesehen hatte: ein lieblicher brauner Knabe mit dichtem krausen Haar und roten Lippen, von seinen unseligen Widersachern an einen Baum gefesselt; obwohl ihn Pfeile durchbohren, schaut er mit göttlichem,
leidenschaftlichem Blick zur ewigen Schönheit der sich öffnenden Himmel empor.“ Als der Herausgeber vorschlug, wenigstens einen der beiden „Knaben“ durch einen „Jüngling“ zu ersetzen, kam Wilde der Bitte nicht nach.113 Wie sehr sich Oscar Wilde selbst mit dem hl. Sebastian identifizierte, zeigte, daß er nach seinem Zuchthausaufenthalt den Namen Sebastian Melmoth führte.114 Sebastian, weil er sich selbst als Märtyrer für die Schönheit sah, Melmoth nach dem Roman Melmoth der Wanderer115 seines Lieblingsgroßonkels Charles Robert Maturin, der darin beschrieb, wie sein Held ruhelos durch die Welt wandert, um einen Menschen zu finden, der bereit ist, sein Schicksal auf sich zu nehmen und ihn dadurch von seinem Pakt mit dem Teufel zu befreien. Zu ergänzen bleibt, daß Wildes Gefängnisuniform in Reading mit Pfeilen gemustert war.116 Hauptvertreter, nach Richard Kaye „Gottvater“117 des englischen literarischen Ästhetizismus war Walter Pater, der in Werken und Briefen seine Bewunderung des männlichen Körpers nicht verbarg. 1886 veröffentlichte er sein „imaginäres Porträt“ Sebastian van Storck. Der Held zieht den Winter dem Sommer vor, flieht alles Positive und repräsentiert Todessehnsucht statt christlichem Bekennermut.118 Er stirbt jung bei der Rettung eines Kindes aus Todesgefahr. Der Arzt tröstet seine Mutter damit, daß Sebastian ohnehin nicht lange zu leben hatte, da er an einer Krankheit litt, „die damals in die Welt kam, von den Nebeln jenes Landes erzeugt, in Leuten, die durch die Einflüsse des modernen Luxus in ihrer Konstitution etwas
verzärtelt waren.“119 Homosexualität als Erscheinung der Dekadenz war um die Jahrhundertwende ein gängiger Topos. [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Alfred Hrdlicka: St. Sebastian (1973), Illustration zu Thomas Manns Tod in Venedig
Im Gegensatz zu diesen beiden Autoren bezieht sich Gabriele d´Annunzio in seinem Mysterienspiel Das Martyrium des heiligen Sebastian (1911), Textgrundlage zu Debussys gleichnamiger Komposition, deutlicher als alle anderen etwa zeitgleichen Zugriffe auf das Thema auf die christliche Legende, allerdings nicht ohne eigene Akzente hinsichtlich homosexueller und sadomasochistischer Motive zu setzen (beide Werke werden ausführlich unten in Kapitel 5 behandelt). Ebenfalls 1911 erschien Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. Ihr Held, der Schriftsteller Gustav Aschenbach, geht an seiner Sehnsucht nach dem schönen Tadzio zugrunde. Als Aschenbachs Ideal beschreibt Thomas Mann eine intellektuelle und jünglinghafte Männlichkeit, „die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen“.120 Dieses Ideal darf aber nicht als zu „passivisch“ mißverstanden werden, „denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht nur ein
Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst“.121


Von 1918 bis zur Gegenwart
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Intensität der literarischen Beschäftigung mit dem Sebastian-Motiv ab. Der amerikanisch-englische Schriftsteller Thomas Stearns Eliot ging in zwei Gedichten auf den hl. Sebastian ein.122 Sein Liebeslied des heiligen Sebastian zeigte deutliche sadistische und masochistische Züge (eine Frau wird erwürgt, ein Mann geißelt sich selbst). In Tod des Heiligen Narziß genießt der Märtyrer den ihm zugefügten Schmerz:
„Er tanzte auf dem heißen Sand
Weil sein Leib verliebt war in die Feuerpfeile,
Bis die Pfeile kamen.
Und da er sie empfing, gab seine weiße Haut
Sich dem Rot des Blutes hin,
Und er fand Befriedigung.“
Beide Gedichte können als Hinweis auf Schwierigkeiten Eliots mit dem anderen, aber auch mit dem eigenen Geschlecht verstanden werden. Die ängstliche Sexualität seiner frühen Gedichte hat sich in allgemeine Gewaltsamkeit verwandelt, die sich in erster Linie gegen ihn selbst richtet. Manches spricht dafür, daß seine Probleme u.a. in nicht ausgelebten homoerotischen Neigungen begründet waren.123 1945 wurde der Roman Brideshead Revisited (auf deutsch: Wiedersehen mit Brideshead. Die heiligen und profanen Erinnerungen des Hauptmanns Charles Ryder) des britischen Autors Evelyn Waugh veröffentlicht.124 Waugh schuf mit der Geschichte von Charles Ryder und Sebastian Flyte einen bewegenden Tribut an die homoerotische Liebe. Nach der Veröffentlichung dieses Romans heiratete Waugh und in seinen späteren Werken finden sich keine homosexuellen Bezüge mehr.125 Obwohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert, bildet der Roman vom Sujet her gleichsam den Abschluß der Fin de Siécle-Literatur zum Thema
Sebastian. Der Name Sebastian steht hier noch einmal für ein Europa der geistigen Krise und des Niedergangs, personifiziert im Schicksal Sebastian Flytes: „Er war zauberhaft, von jener geschlechtslosen Schönheit, die in der Jugend allzu überschwenglich nach Liebe dürstet und beim ersten kalten Windhauch verwelkt.“126


Yukio Mishima
Eine zentrale Rolle bei der Sebastian-Rezeption durch homosexuelle Autoren spielt der japanische Autor Yukio Mishima. Der hl. Sebastian ist, aus japanischer Sicht, eine Figur aus einem sehr fremden Kulturkreis. Umso erstaunlicher ist die Rolle, die der Heilige in Mishimas Leben spielt. Für Mishima war das Sebastian-Erlebnis sicher ebenso wichtig wie seinerzeit für Platen. In seinen autobiografischen Roman, Geständnis einer Maske (1949), in dem er den Prozeß seiner Selbstentdeckung als homosexueller Außenseiter protokollierte, schrieb Mishima: „Plötzlich erblickte ich auf der nächsten Seite ein Bild, von dem ich fast denken mußte, daß es die ganze Zeit auf mich geradezu gewartet habe. Es war eine Reproduktion von Guido Renis Hl. Sebastian (...). Als ich an jenem Tage das Bild betrachtete, durchzuckte mich eine heidnische Freude. Das Blut schoß mir ins Gesicht, und meine Lenden schwollen an wie im Zorn. Das monströse Glied war nahe daran zu zerplatzen und verlangte mit brennender neuer Heftigkeit, daß ich es gebrauche (...). Ich spürte, wie sich in mir ein geheimnisvolles Etwas schnellfüßig erhob und zum Angriff überging. (...) Plötzlich brach es hervor, blendete und berauschte mich (...). Dies war meine erste Ejakulation.“127 Als er dieses „bestürzende, sinnliche Ereignis“128 erlebte, war Mishima wenig älter als 12 Jahre. Die Figur des hl. Sebastian ließ ihn nun nicht mehr los. Einige Jahre später verfaßte er ein Fragment gebliebenes „Gedicht in Prosa“ über Sebastian, in dem er die Verbindung zwischen Schönheit und Tod herausstrich: „Und war nicht eine solche Schönheit dem Tode geweiht? (...) Doch sein Schicksal verdiente in keiner Weise Mitleid. Es war ein stolzes und tragisches Schicksal, das man sogar leuchtend nennen könnte. (...) Und er wird, wenn auch nur dunkel, vorausgesehen haben, daß am Ende seines Weges der Märtyrertod auf ihn wartete, und daß ihn gerade dieses Zeichen, das das Schicksal ihm aufgedrückt hatte als das Merkmal seiner Besonderheit, von allen anderen Menschen dieser Erde unterschied.“129 Nahm er hier sein eigenes Schicksal vorweg? Die Verbindung zwischen Schönheit, Leiden und Tod durchzog sein ganzes Werk. Sein eigenes Leben sah er als Kunstwerk, das er folgerichtig mit seinem sechs Jahre lang vorbereiteten Freitod (1970) vollenden mußte. Kurz vorher130 ließ sich Mishima in der Pose des Hl. Sebastian fotografieren, gleichsam als sein künstlerisches Vermächtnis. Der Fotograf Shinoyama Kishin war durch Mishimas Selbstmord so schockiert, daß er die Fotos zunächst nicht veröffentlichen wollte.131

 

Und heute?
Auch in der schwulen Literatur der Gegenwart ist das Sebastian-Thema präsent, z. B. in Alan Hollinghursts Schwimmbadbibliothek132 und dem Roman Farben der Nacht133 von David Hunt. In letzterem geht es um den grausamen Mord an Tim, einem jungen Stricher. Tims Wunsch, in der Pose Yukio Mishimas, das heißt, als Sebastian gefesselt fotografiert zu werden, blieb unerfüllt. Auf die Frage, ob er sich denn als Märtyrer fühle, ist seine Antwort nicht eindeutig; als Sebastian fotografiert zu werden, mache ihn aber an.134 Bei der Aufklärung des Mordes spielen Sebastians Pfeile eine Rolle - verwandelt in Wurfmesser. Insgesamt machen die in diesem Kapitel angeführten Beispiele die Vielfalt der literarischen Verwendung des Sebastian-Motivs, ob homosexuell motiviert oder nicht, deutlich. Klar ist, daß in einer schwulen Literaturgeschichte (was immer man darunter auch versteht) das Thema Sebastian nicht übergangen werden kann. Eine abschließende Bemerkung: die hier behandelten Schriftsteller sind nur eine Auswahl. Besonders aus dem englisch- wie aus dem niederländischsprachigen135 Raum gibt es eine Reihe Autoren, die hier aus verschiedenen Gründen nicht behandelt werden konnten. Federico García Lorca und Julien Green werden in dieser Broschüre an anderer Stelle angesprochen. Zu weiteren Schriftstellern, darunter einige, die eigentlich nicht hätten übergangen werden dürfen, haben wir
zwar Hinweise, daß sie sich mit dem hl. Sebastian beschäftigt haben, aber keine genauen Textstellen gefunden (z.B. Auden, Cocteau, Kafka, Proust - für nähere Informationen wären wir dankbar).


Postskriptum
Im Goethejahr soll der Weimarer Meister das Schlußwort haben, auch wenn es, da ihn das Thema Sebastian offensichtlich nicht sehr interessiert hat, kurz sein muß: „... ein Sebastian, wie köstlich gemalt“136, stellte er angesichts eines Werks von Guido Reni fest. Wer wollte ihm widersprechen?

 

Fußnoten:

84 Peter Bumm: August Graf von Platen. Eine Biographie. Paderborn 1990, S. 689; zu Platens Venedig-Aufenthalt ebd., S. 338-355

85 Tagebücher, 19.9.1824, zitiert nach: August von Platen: Tagebücher. Auswahl und Nachwort von Rüdiger Görner. Zürich 1990, S. 381

86 ebd., S. 395f.

87 Sonett XXVI, zitiert nach: Platens Werke, hg. von G. A. Wolff und B. Schweizer.

Leipzig, Wien o. J. (1895), Bd. 1, S. 140

88 ebd., S. 61

89 Hafkamp: Lijden, S. 139; Görner: Nachwort zu Platen: Tagebücher, S. 647

90 Kapitel 1

91 ???

92 William Shakespeare: Twelfth Night, or what you will (Was Ihr wollt), 3. Akt, 4. Szene

93 nach Le Targat, S. XVIII, ohne genauere Quellenangabe

94 Wiseman: Fabiola

95 Charles Dickens: Pictures from Italy. London 1998 (Erstausgabe 1846), S. 145

96 nach Kaye: St. Sebastian, S. 649

97 Sebastian. Die Ketzer. Zwei Dialoge. Gütersloh 1966

98 in: Florentiner Novellen, 1890

99 Gütersloh 1949

100 München 1925

101 Hellerau 1927

102 Frankfurt/Main 1973

103 siehe Kapitel 3

104 deutsche Ausgabe: München 1899

105 zitiert nach der Ausgabe Leipzig 1974, S. 121

106 Neue Gedichte. 1907/08

107 Reid; Heusinger, S. 17f.

108 Falk, S. 26ff.

109 Georg Trakl: Das dichterische Werk. München 1972, 15. Aufl. 1998

110 siehe hierzu Walter Falk: Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus. Salzburg: Otto Müller Verlag 1961, S. 308ff.

111 Hans Esselborn: Georg Trakl. Die Krise der Erlebenslyrik. Köln, Wien: Böhlau

Verlag 1981, S. 198

112 zitiert nach Richard Ellman: Oscar Wilde. München 1991, S. 117

113 nach Ellman, ebd.

114 ebd., S. 700

115 deutsche Ausgabe: München 1969

116 David Galloway / Christian Sabisch: Nachwort zu: Calamus. Männliche Homosexualität in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Reinbek 1981, S. 356

117 Kaye 1995

118 deutsche Ausgabe: Wien 1924 (mit 8 großartigen Zeichnungen von Alastair – wer immer auch sich hinter diesem Pseudonym verbirgt)

119 ebd., S. 45

120 zitiert nach Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/Main 1963, S. 360

121 ebd.

122 Gedichtzitat: Spiegel 24/1988, S. 198; siehe auch Peter Ackroyd: T. S. Eliot. Eine Biographie. Frankfurt / Main 1988, S. 65-67

123 ebd.; siehe auch Gregory Woods: T.S. Eliot, in: The Gay and Lesbian literary heritage. New York 1995, S. 219f.

124 engl. Erstausgabe 1945; zitiert nach der deutschen Ausgabe Hildesheim 1994

125 David Leon Higdon: Evelyn Waugh, in: The Gay and Lesbian literary heritage. New York 1995, S. 730

126 ebd. (Anm. 41), S. 37

127 zitiert nach der Taschenbuchausgabe Reinbek 1985, S. 29f.

128 ebd., S. 31

129 ebd., S. 33

130 In der Literatur zu Mishima finden sich unterschiedliche Angaben zur Datierung: 1966 und 1970

131 Hafkamp: Sebastiaan (Sek), S. 29; zu Mishima siehe das Kapitel über Sebastian in der Literatur, S.

132 siehe in Kapitel 7

133 München 1997; amerikan. Erstausgabe ebenfalls 1997

134 ebd., S. 56

135 englischsprachige Autoren: Lawrence Durrell, Frederick William Rolfe, Wallace Stevens; Nabokov (Sebastian Knight); zur niederländischen Literatur siehe den Artikel in Sebastiaan

136 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise, in: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 15, S. 123