5. „Schrei ich nach Liebe, die mich quäle” - St. Sebastian in der Musik


Es gibt nicht viele Beispiele für die musikalische Bearbeitung des Sebastian-Themas. Die meisten davon stammen aus dem kirchlichen Bereich. Natürlich wird Sebastian in der Allerheiligenlitanei erwähnt, wie die anderen Heiligen mit einer Zeile: „Sancte Sebastiane, ora pro nobis – heiliger Sebastian, bitte für uns“. Aus dem Mittelalter sind lateinische Gesänge überliefert. Gesangbücher des 18. und 19. Jahrhunderts enthalten deutschsprachige Lieder, die Sebastians Martyrium
besin-gen oder seinen Beistand erbitten.137 [An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Sebastianslied aus Kuchenheim, 1. Strophe (1840)138 In unserem Jahrhundert hat die musikalische Beschäftigung mit dem hl. Sebastian eher noch nachgelassen. Philip Glass unterlegte in dem Film Mishima von Paul Schrader139 die Sebastian-Szene mit einer 65-Sekunden-Komposition Saint Sebastian. Im Bereich der Popmusik gibt es den Song Sebastian von Steve Harley and Cockney Rebel (1973). Der Sänger, von anderen deshalb (?) Sebastian genannt, wünscht sich, daß ihn die Liebe treffe wie ein Wurfpfeil. Die Gruppe R.E.M. mit ihrem schwulen Sänger Michael Stipe bezieht sich im Video zu ihrem Song Losing my Religion ebenfalls auf den Sebastian-Mythos.140 Aus dem Text des Songs ist dieser Bezug nicht ersichtlich, wenn man nicht den Titel als Beschreibung der Lösung Sebastians aus dem religiösen und seiner Einbeziehung in den homosexuellen Zusammenhang deuten will. Das wichtigste Beispiel für die musikalische Bearbeitung des Sebastian-Themas ist Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien aus dem Jahr 1911, ein fünfstündiges Bühnenwerk, das Instrumental- und Vokalmusik mit Sprache, Schauspiel und Tanz verbindet141. Der Text stammt von Gabriele d´Annunzio.

 

D´Annunzios Mysterienspiel
Gabriele d´Annunzio (1863-1938), einer der wichtigsten italienischen Schriftsteller der Zeit um die Jahrhundertwende, war als Romanautor und Dramatiker ebenso bekannt wie durch seine zahlreichen Liebesaffären (u.a. mit der Schauspielerin Eleonora Duse). Sein bewegtes heterosexuelles Liebesleben hinderte ihn nicht, als Offizier im Weltkrieg mit seinen Soldaten die Freuden der gleichgeschlechtlichen Liebe zu genießen.142 Auf der Flucht vor seinen Gläubigern lebte er seit 1910 in Paris. Die russische Tänzerin Ida Rubinstein (1888-1960), Mitglied der Ballets Russes, die damals in Paris auftraten, gab D´Annunzio den Auftrag zu einem Bühnenwerk, das in Anlehnung an mittelalterliche Mysterienspiele das Schicksal des hl. Sebastian behandeln sollte143. Der Text basiert auf der Legenda aurea144. D´Annunzio weicht von seiner Vorlage aber in entscheidenden Punkten ab. Einerseits betont er die Grausamkeit, andererseits die Sinnlichkeit der Überlieferung. Letzteres dadurch, daß er Sebastian mit masochistischen Zügen ausstattet und die Legende um homoerotische Aspekte erweitert. Zum Inhalt: die Brüder Marcus und Marcellianus sollen, weil sie Christen sind, getötet werden. Als Marcus sich zum Christentum bekennt, wird er gefragt, ob er dabei auch für seinen Bruder spricht. Er antwortet: „Wir sind nur eines, siehst du, ein Gesicht, ein Blick, ein Sang, sind eine Lieb´, ein Herz“145 Während die beiden auf Folter und Hinrichtung warten, werden sie von einer großen Volksmenge, darunter Sebastian und seine Bogenschützen, beobachtet. Sebastian blickt in einer Art von Verzückung146 auf die Zwillinge. Die Schützen, deren Hauptmann er ist, machen ihrerseits ihre Zuneigung zu ihm deutlich: „Wir lieben dich, o Herr. Die Schützen lieben Ihr Oberhaupt mit seinen schönen Locken.
- Ja, deine Schützen lieben Dich.
- Du bist so schön.
- Du bist so schön wohl wie Adonis.“
Sebastian bestärkt die Zwillinge in ihrem Glauben und bittet Gott um ein Zeichen seiner Macht. Er schießt einen Pfeil zum Himmel, der nicht wieder herabfällt. Aus Begeisterung über dieses Wunder tanzt Sebastian auf den für die Folterung der Zwillinge vorbereiteten glühenden Kohlen einen ekstatischen Tanz. Eine Blinde wird sehend, die ganze Familie der Zwillinge bekehrt sich zum Christentum und die glühenden Kohlen verwandeln sich in Lilien. Überzeugt vom göttlichen Auftrag zerstört nun Sebastian im ganzen Land heidnische Tempel und Götzenbilder.

[An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Léon Bakst: Der hl. Sebastian. Kostümentwurf für Ida Rubinstein (1911)
Sein Weg führt ihn zum Rat der falschen Götter. Kaiser Augustus, der dem Rat vorsitzt, ist umgeben von Priestern und Magiern, Wahrsagern und Astrologen, Eunuchen und Sängern: alle flehen ihn an, sie vom Christentum zu befreien. Augustus begrüßt Sebastian mit den Worten:
„Gruss, schöner Jüngling, Dir und Heil, o Schütze Mit Hyacinthuslocken. Ich begrüsse
Den Hauptmann meiner Schar aus Emesa, Der von Apoll geliebt ist, den der Lichtgott
Gefällig angeschaut. Sebastianus. Bei meinem Lorbeer. Lieb bist du auch mir.
(...) Ich liebe dich.“ Der Kaiser ist von Sebastians Schönheit so angetan, daß er ihn bei sich behalten will. Er bietet Sebastian Macht und Reichtum und möchte ihn zum Gott machen:
„Denn dem Kaiser Ist alles wohl erlaubt. Und Hadrian Hat jenen Jüngling mit dem düstern Munde,
Bithyniens Sohn, zum Gott gemacht.“ Die Stimmung wird nun immer ausgelassener und freier. D´Annunzio gibt folgende Regieanweisung: „Um ihn herum feiern die Adoniasten (...) zum Spiel der (...) Flöten, die göttliche Orgie“. Der Chor singt dazu: „Ihr Weiber, Eure Haare löst, Und lasset Eure Gürtel fallen.“ Der Kaiser ist dabei mehr auf Sebastian als auf die anwesenden Frauen fixiert und „scheint mit seinen gierigen Augen das Antlitz des Jünglings zu verschlingen“ (Szenenbeschreibung). Sebastian wehrt sich gegen das, was nun von ihm erwartet wird und läßt offen seine Mißachtung gegenüber dem Kaiser erkennen. Dieser ist darüber außer sich und befiehlt, Sebastian hinzurichten. Sebastian wird entkleidet und an einen Lorbeerbaum im heiligen Hain Apolls gebunden. Seine Bogenschützen wollen ihn befreien, doch Sebastian weiß, daß sich sein Schicksal erfüllen muß. Mit glühenden Worten fordert er sie auf, ihre Pfeile auf ihn abzuschießen:
„Meine Schützen, wenn Ihr jemals mich geliebt, so will ich jetzt An Blut und Eisen Eure Liebe prüfen! Ich sag es abermals: Wer mich am tiefsten Verwundet, hat am tiefsten mich geliebt.“
Deutlich drückt Sebastian seine masochistische Sehnsucht aus: „So seid berauscht! Nach meinem Leibe Ganz nahe zielt. Er ist die Scheibe. Aus tiefster Seel’, aus tiefster Seele Schrei ich nach Liebe, die mich quäle!“ Am ganzen Leib verwundet, sinkt Sebastians Haupt auf die Schulter, der Körper wird nur noch durch die Fesseln gehalten. Seine Schützen küssen ihn ein letztes Mal. Dann erliegt der Heilige seinen Verletzungen. Weinende Frauen lösen die Fesseln und staunen über ein Wunder: die Pfeile bleiben im Stamm des Baumes stecken. Als sich der Trauerzug seinen Weg bahnt, öffnet sich der Himmel. Die Heere der Engel und Heiligen empfangen die Seele Sebastians im Paradies.

Debussys Bühnenmusik

Für die Musik konnte nach Absagen von zwei anderen Komponisten Claude Debussy gewonnen werden147. Es war vermutlich Geldnot, die Debussy dazu bewegte, ein so umfangreiches Werk unter Zeitdruck zu komponieren. Die Partitur, für die er normalerweise ein Jahr gebraucht hätte, mußte in zwei Monaten fertig sein. Obwohl kein gläubiger Christ, fand er offensichtlich gerade an den religiösmystischen Elementen des Dramas Gefallen. Der Zeitdruck bewegte ihn, seinen Freund und Schüler André Caplet, der die Uraufführung dirigierte, zur Mitarbeit heranzuziehen. Caplet kopierte die Stimmen und übernahm teilweise die Orchestrierung; ob er einzelne Abschnitte selbst komponiert hat, ist ungeklärt. Le Martyre de Saint Sébastien wird zu Debussys leidenschaftlichsten und ausdrucksvollsten Kompositionen gezählt. Musikalisch hat sich Debussy vom Volkslied, von der mittelalterlichen Ballade, von der Chormusik der Renaissance, von der asiatischen Musik und insbesondere von Richard Wagner, vor allem dessen Bühnenweihspiel Parzifal, beeinflussen lassen. Die Vielfältigkeit dieser musikalischen Quellen sorgte aber bei der Uraufführung sowohl beim Publikum wie bei der Kritik für Verwirrung. Debussy selbst war alles in allem mit einem Werk zufrieden, mit dem er, wie er sagte, „eine dekorative Musik” geschaffen habe, die Illustrierung eines edlen Textes in Klängen und Rhythmen. Heute wird das Werk einerseits als Schlüsselwerk aus Debussys letzten Jahren eingestuft, das musikalische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorausahnen läßt, andererseits wird die Ungleichmäßigkeit und überhastete Komposition kritisiert.

 

Die Inszenierungen
Die Uraufführung fand am 22. Mai 1911 am Théâtre du Chátelet in Paris unter der Leitung von Ida Rubinstein, der Auftraggeberin des Werks, statt. Ida Rubinstein hatte zudem, trotz aller Widerstände, auch die Rolle des hl. Sebastian übernommen. Sie wollte damit das Androgyne in der Figur des Heiligen betonen. Die Kritik reagierte, wie gesagt mit Ratlosigkeit. Insgesamt wurde die Aufführung ein Mißerfolg, was u. a. auf Proteste von seiten der katholischen Kirche zurückzuführen war. Wenige Tage vor der Premiere hatte der Erzbischof von Paris es allen
Katholiken untersagt, sich das Spektakel anzusehen. Es wurde als Angriff auf alle wahren Christen gewertet. In der Tat gab es einiges an der Behandlung des Stoffes, das geeignet war, den Unmut der Geistlichkeit hervorzurufen. Die androgyn angelegte Hauptrolle wurde durch eine jüdische (!) Tänzerin gespielt; der Kaiser verspürte eine sexuelle Neigung für den schönen Sebastian; schließlich wurde das Leiden Christi in einer Art dargestellt, die bewußt Parallelen zu Tod und Wiedergeburt des Adonis zog. Das Verbot des Erzbischofs blieb bestehen, obwohl Debussy und D’Annunzio erklärten, das Werk sei Ausdruck tiefsten religiösen Empfindens.

[An dieser Stelle befindet sich in der Broschüre eine Illustration] Protestbrief D´Annunzios und Debussys an den Pariser Erzbischof: „Wir bekräftigen (...), daß dieses Werk zutiefst religiös ist und die lyrische Verherrlichung nicht nur des bewundernswürdigen Kämpfers Christi, sondern des ganzen christlichen Heroismus darstellt.“148 Nach der Uraufführung gab es unterschiedliche Neuinszenierungen: im Konzertsaal mit und ohne Chor, manchmal mit gesprochenen Texten, als Ballett und als Oratorium. Versuche, das Werk in Originalgestalt auf die Bühne zu bringen, fanden dagegen wenig Zuspruch. Den größten Erfolg verbuchte jene Fassung, die mit Zustimmung D’Annunzios und Debussys für zahlreiche Aufführungen unter dem Dirigenten Désiré-Emile Inghelbrecht (1880-1965), dem Chorleiter der Uraufführung, angefertigt wurde.149 In jüngerer Zeit entstanden freie Inszenierungen des Werks, wie 1988 die Pariser Aufführung unter der Regie von Robert Wilson oder 1997/98 das Projekt der katalanischen Theatertruppe La fura dels baus, die auch die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Barcelona gestaltet hatte. In Wilsons Neuinterpretation ist Sebastian ein Matrose, der einen Pfeil auffängt, statt von ihm getötet zu werden. Wilson, dem Worte und Musik weniger wichtig sind als Licht und Bewegung, verzichtete auf D’Annunzios künstliche Sprache. Er erfand einen eigenen Prolog, nutzte nur einzelne Fragmente von Debussys Musik und spaltete die Androgynität Sebastians in einen männlichen Tänzer und eine weibliche Tänzerin. Gerhard Koch schrieb über diese Inszenierung in der FAZ.150 Unter dem homophob anmutenden Titel „Kühles rettet Schwüles“ lobte er die Produktion, da es ihr gelinge „alle bloß schwülstige Erotik der Vorlage zu umgehen, ja kühl zu umtanzen. (...) Denn daß (...) die Christusparallele wie schon in den vielen Gemälden zum Adoniskult umgebogen wurde, daß D’Annunzios Text Religiöses und Erotisches, Erhabenes und puren Kitsch schwül vermengte, war schon peinlich genug.“ Weitere Aufführungen von Le Martyre de Saint Sébastian sind selten. Vor allem die musikalisch, personell und technisch enorm aufwendige Mischung aus Musiktheater, Schauspiel und Ballett stand einer festen Etablierung in den Spielplänen bisher im Wege. Gerade in diesem Sommer bieten sich aber, wenn man eine Reise nicht scheut, mehrere Gelegenheiten, das Werk live zu erleben: beim Internationalen Musikfestival im Castell de Perelada (Provinz Girona, Spanien, 19. Juli bis 20. August), bei den Salzburger Festspielen (1. August, hier möglicherweise nur konzertant) und schließlich beim Festival Wratislava Cantans (WrocÓaw / Breslau, 4. bis 14. September).

 

Fußnoten:

137 Reiter, S. 39-42

138 Siehe Kapitel 1, Anm. 6

139 siehe Kapitel 6

140 Kaye (1995), S. 650; Kaye (1996), S. 86

141 Die im Handel erhältlichen CDs enthalten die Musik in der Regel vollständig; der gesprochene Text wird zusammengefaßt oder fehlt ganz

142 Michel Larivière: Homosexuels et bisexuels célèbres. Le Dictionnaire. Paris 1997, S. 115

143 zu D´Annunzio: Maria Gazzetti: Gabriele d´Annunzio. Reinbek 1989, bes. S. 91- 95

144 siehe Kapitel 1

145 Dieses Zitat und die weiteren Zitate sind entnommen aus: Gabriele d’Annunzio: Das Martyrium des heiligen Sebastian. Berlin o.J. (1916)

146 Szenenbeschreibung D´Annunzios

147 Jean Barraqué: Claude Debussy. Reinbek: Rowohlt 1964, bes. S. 140-142; David Cox: Le Martyre de Saint Sébastien, in: Beiheft zur gleichnamigen CD, Dirigent Michael Tilson Thomas (Sony Classical SK 48240)

148 nach Emile Vuillermoz: Claude Debussy. Frankfurt/Main 1957, S.147 und 160

149 Cox (siehe Anm. 11)

150 Gerhard Koch: Kühles rettet Schwüles, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.1988