Zum Tod von Martin Goldstein: Ein Nachruf auf "Dr. Sommer"

Der Aufklärer der Jugendzeitschrift "Bravo" ist am 31. August 2012 im Alter von 85 Jahren an Krebs gestorben.


Dr. Martin Goldstein war Arzt, Psychotherapeut, Ehe- und Erziehungsberater. Er ist vor allem unter dem Pseudonym "Dr. Sommer" bekannt geworden, unter dem er zwischen 1969 und 1984 als verantwortlicher Leiter in der Jugendzeitschrift "Bravo" für die Beratungskolumne verantwortlich war. Mit dieser "Dr. Sommer"-Seite hat er nicht nur mehrere Generationen von Jugendlichen sexuell aufgeklärt, sondern ihnen auch allgemeine Lebenshilfe geboten. Dadurch hat er viel bewegen können.

Auch wenn ich nicht wie seine Kinder und seine Lebenspartnerin auf viele Jahrzehnte mit ihm zurückblicken kann, glaube ich, ihn zu kennen. Vor drei Jahren habe ich Martin kennen gelernt, weil ich an meinem Buch über Schwule und Lesben in der "Bravo" schrieb und Fragen an ihn hatte. Bevor er meinem Wunsch nach einem Interview zustimmte, wollte er mein Buchmanuskript lesen. Wegen meiner Kritik war ich mir unsicher, ob er mir ein Interview geben wollte. Mir war z. B. bekannt, dass die Schwulenszene ihm vorwarf, Homosexualität immer nur als eine Phase darzustellen und Schwule und Lesben damit nicht ausreichend ernst zu nehmen.

Solche kritischen Fragen fand Martin jedoch nicht unangenehm, sondern freute sich sogar darüber. Das anschließende mehrstündige Gespräch mit ihm habe ich genossen. Seine Beobachtungsgabe, seine Argumentationsfähigkeit und seine Ehrlichkeit. Es ist keine Frage offen geblieben. Er konnte mir erklären, warum er bei der Schilderung in "Bravo", was Schwule eigentlich im Bett machen, in den 70er Jahren eine persönliche Grenze nicht überwinden wollte und warum so und nicht anders seine Texte gestaltet waren. Wir hatten einen Draht zueinander. Er hat es mit seinen Buchwidmungen "in brüderlicher Übereinstimmung" auf seine Weise formuliert. Im Zusammenhang mit der "Bravo"-Ausstellung über Schwule und Lesben in der "Bravo" hat er mich unterstützt und es kam zu einigen weiteren Gesprächen.

 

Sein Engagement in Sachen Sexualaufklärung hat ihn jung gehalten

Mir wird er vor allem als engagierter, ehrlicher und hilfsbereiter Mensch in Erinnerung bleiben. Als die WDR-Sendung "Hallo Ü-Wagen" eingestellt werden sollte, initiierte er sofort eine Unterschriftenaktion dagegen. Trotz Kälte und Nässe kam er zur letzten Übertragung von "Hallo Ü-Wagen" am 18. Dezember 2010 nach Köln, nur um sich zwei Stunden lang solidarisch zu zeigen. Während ich mich in einem benachbarten Kaufhaus mehrfach aufwärmte, hielt er trotz Alter und Krankheit zwei Stunden lang durch. Es ist offensichtlich, dass ihn auch sein Engagement in Sachen Sexualaufklärung jung gehalten hatte. Er hat es genossen, "Dr. Sommer" zu sein, und bis auf die letzten Monate hatte er das Gespräch mit Jugendlichen gesucht.
Eines Tages rief er mich an, nur um mich zu fragen, wie orgasmusfixiert eigentlich schwule Männer sind, und wir haben uns über schwulen Sex unterhalten. Ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Gespräch gerne mit meinem Vater geführt hätte, aber ich hätte gerne einen Vater gehabt, mit dem ich ein solches Gespräch hätte führen können. Bei seiner ungewohnt offensiven Art, mit Sexualität und Körper umzugehen, nahm er dabei seinen eigenen Körper nicht aus. Zum Schluss trug er eine Windel. Er hat sich dafür genauso wenig geschämt wie für seine gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen in der Pubertät, von denen er mir erzählte. Beides kann zum Leben in seinen unterschiedlichen Phasen dazu gehören.
Auch der Tod unterlag bei ihm keinem Tabu. Sein Krebs hatte ihn zwar viele Jahre in Ruhe gelassen, aber Mitte dieses Jahres wusste er, dass er bald sterben wird. Im Hospiz fragte er mich, ob ich zu seiner Beerdigung komme, und freute sich über meine Zusage. Natürlich wusste er, was er da sagte. Die Tabulosigkeit von Martin in Bezug auf den Tod möchte ich mir zum Vorbild nehmen. Ich möchte nicht mehr von "Loslassen können", "Verabschieden" und "Einschlafen", sondern von Tod und Sterben sprechen.

 

Goldstein wollte immer nur unterstützend und beratend helfen

Vom Krebs gezeichnet: Martin Goldstein im Hospiz - Quelle: Erwin In het Panhuis
Vom Krebs gezeichnet: Martin Goldstein im Hospiz
Bild: Erwin In het Panhuis

Von den (Nicht-)Reaktionen auf sein letztes Buch "Teenagerliebe" – das erste nach 30 Jahren! – war er enttäuscht. Wenn er sich "Kommunitäten" wünscht, in denen Jugendliche mit ihren Fragen aufgehoben sind, kann dies wie rückwärtsgewandtes 68er-Denken wirken. Aber vielleicht werden seine Gedanken, dass Kinder immer mehr Erwachsene als die Eltern als Ansprechpersonen brauchen, später einmal ernsthaft diskutiert werden. Ich zumindest glaube daran. Selbst im Hospiz hatte er darüber nachgedacht, dass er einige Formulierungen zu hart gewählt hatte. Er wollte nie anderen sagen, was falsch und richtig ist, er wollte immer nur unterstützend und beratend helfen. Er wollte provozieren, um Diskussionen zu erzeugen – doch die Reaktion war ein einheiliges Schweigen (fast) aller Medien.

Vieles hat sowohl seine Persönlichkeit als auch seine Beratungstätigkeit bei "Dr. Sommer" gekennzeichnet. Auch privat hat er immer signalisiert, dass man ihn alles fragen kann und dass er zu helfen versucht. Es hat mir keinen Mut abverlangt, ihn im Hospiz zu fragen, ob er Angst vor dem Tod hat. Er hat gesagt, dass er keine Angst hat, ist sich aber nicht ganz sicher, ob er sich da selbst was vormacht. Auch solche Selbstzweifel gehören zum Selbstbewusstsein.

Bis zum Schluss konnte sich Martin in einem konstruktiven Sinn über das aufregen, was in Politik und Gesellschaft immer noch schief läuft. Er fand es z. B. beschämend, dass Jugendliche in der Pubertät auf der Suche nach Antworten eher Internet-Pornos als sachkundige Hilfe finden. Im Rahmen eines Podiumsgespräches in Köln hat er deshalb alle Anwesenden aufgefordert, die Rolle des "Dr. Sommer" zu übernehmen. Um helfen zu können, muss man nicht studiert haben, sondern man muss zuhören können, helfen wollen und sich für andere verantwortlich fühlen. Wenn Erwachsene Jugendliche in der Pubertät auch in Fragen der Sexualität beistehen, können Zeitschriften wie "Bravo" schnell überflüssig werden. Ich würde mich freuen, wenn von diesem Geist etwas bleibt.

 

Dieser Nachruf von mir erschien zuerst auf Queer.de.

Ein Interview zum Tod von Dr. Sommer

Zum Tod von Dr. Sommer habe dem Radiosender Flux ein Interview gegeben.
4.9. bei FluxxBeitrag Dr. Sommer.mp3
MP3-Audiodatei [3.9 MB]