2. „Sollen einander wahre rechte und christliche liebt beweisen“34 Schützengilden und Sebastiansbruderschaften

Gilden als Schwurbruderschaften und Speisegemeinschaften von Kaufleuten und Handwerkern lassen sich weit zurückverfolgen. Ihre Wurzeln reichen bis in die heidnische Zeit. Vorchristliche Wurzeln hat mit Sicherheit der Brauch des Vogelschießens: der Vogel als Symbol der Gottheit wird getötet, damit den Menschen neue Lebenskraft zufließt; das göttliche Opfer wird mit Umzügen und Gelagen gebührend gefeiert.35 

Eine erste Blüte erlebten die Gilden in den aufstrebenden mittelalterlichen Städten. Ihre heidnischen Ursprünge machten allerdings die Kirche mißtrauisch und führten bisweilen zu Verboten.36 Auch die Stadtherren suchten die Gilden zu unterdrücken, da sie in ihnen Zentren unerwünschten bürgerlichen Selbstbewußtseins und Freiheitsstrebens sahen.37 Das Ende der staufischen Dynastie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ermöglichte mit der Schwächung der Zentralgewalt die Emanzipation der Städte. Den Gilden boten sich nun neue Entwicklungsmöglichkeiten.

Die erste urkundliche Erwähnung einer Schützengilde stammt aus dem Jahr 1139 (Gymnich); 1190 ist eine Schützengilde für Düsseldorf nachgewiesen, 1240 für Aachen, 1415 für Neuß.38 Der Freiheitskampf der Schweizer gegen die Habsburger begann 1291 mit zwei Armbrustschüssen; die Aufständischen schlossen sich zu einer Eidgenossenschaft zusammen.39 Nach 1300 entstanden zahlreiche Schützengilden, vor allem im nordfranzösisch-flandrisch-niederländischen Raum. Auf Grund der äußeren Verhältnisse (das Gebiet war einer der Hauptkampfplätze des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich) trat hier der Schutz- und Wehrgedanke gegenüber genossenschaftlichen Vorstellungen in den Vordergrund.40 Nicht wenige der Schützengilden wählten den hl. Sebastian, der ja selbst Bogenschütze gewesen war, zum Schutzpatron.

Genossenschafts- und Wehrgedanken bilden zwei Wurzeln der heutigen Schützenvereine. In der Zeit der großen Pest von 1348 bis 1351 kam ein drittes Element hinzu. Es wurden Pestbruderschaften gegründet, die sich Gebet und Gottesdienst widmeten und sich der Versorgung der Kranken und der Bestattung der Leichen annahmen. Sie wollten so den Zorn Gottes, worin das gläubige Volk den Grund für das Wüten der Epidemie sah, besänftigen.

Besonders der hl. Sebastian wurde neben anderen Heiligen wie Anna, Rochus und Christophorus Schutzpatron dieser Bruderschaften. Aus den Pestbruderschaften gingen später oft Schützenvereinigungen hervor. Umgekehrt wandten sich bestehende Schützengilden auch den genannten karitativen Aufgaben zu. Beide Entwicklungen sind nachzuweisen. Die Geistlichkeit sorgte dafür, daß der heidnische Vogel als Symbol der Schützen mehr und mehr durch Bilder Christi und des Schutzpatrons, meistens, wie gesagt, des hl. Sebastian, ersetzt wurde.41

 

Viele der heutigen Sebastians-Schützenbruderschaften entstanden in dieser Zeit oder wenig später. Aus Köln und der näheren Umgebung seien als Beispiele genannt: Schlebusch (1418), Kuchenheim (1421), Lützenkirchen (1423), Hitdorf (1428), Rheindorf (1428), Mülheim (1435), Wiesdorf (1459), Deutz (vor 1463), Rösrath (1468), Opladen (1530), Monheim (1530), Flittard (1594), Stammheim (1594) und Dünnwald (1648).42 Soweit kirchliche Bindungen bestehen, sind sie im „Bund der historischen Schützenbruderschaften“ (Sitz in Köln) zusammengeschlossen.


Die Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts, besonders der Dreißigjährige Krieg, die zunehmend mit Söldnerheeren geführt wurden, und die Ablösung der Armbrust durch das Gewehr bewirkten einen Niedergang des Schützenwesens. Einen neuen Aufschwung erlebte es, diesmal unter bürgerlich-konservativen und patriotischen Vorzeichen, im 19. Jahrhundert. Das Schützenfest war in Stadt und Land ein Höhepunkt des Jahres, der große Umzug demonstrierte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Feiernden.43 Zunehmend verbreitete sich in den Schützenvereinen allerdings völkisches und nationalistisches Gedankengut, später die Grundlage für den Mißbrauch der Schützenidee durch die Nationalsozialisten.44 Nach 1945 setzte einerseits eine Rückbesinnung auf den christlichen Bruderschaftsgedanken ein; andererseits wandelten sich die Schützengilden zu Sportvereinen, die mit wenig Bezug zur Schützentradition ihre Hauptaufgabe in der Pflege des Schießsports sehen.45 Vor allem in katholischen Gegenden ist bis heute der hl. Sebastian Patron vieler Schützengilden. Fahnen mit seinem Bild werden bei den Schützenumzügen mitgeführt. Statuen und Altarbilder in den Kirchen bezeugen die Verbundenheit mit dem Heiligen, sein Namenstag wird mit festlichen Gottesdiensten gefeiert: die Schützen stehen zu ihrem Schutzpatron.

 

Fußnoten:

34 Statut der St. Sebastianus-Bruderschaft Kuchenheim, 1608, zitiert nach Johannes Krudewig: Geschichte der Bürgermeisterei Cuchenheim. Zum 500jährigen Bestehen der St. Sebastianus-Schützengesellschaft bzw. -Bruderschaft zu Cuchenheim (3. Juli 1921). Euskirchen 1921, S. 84

35 Hans Thorald Michaelis: Schützengilden. Ursprung, Tradition. Entwicklung. München 1985, S. 9-15

36 ebd., S. 14f.

37 ebd., S. 19-21

38 ebd., S. 95

39 ebd., S. 23

40 ebd., 32-37; Autenboer

41 ebd., S. 38-40; Theo Reintges: Ursprung und Wesen der spätmittelalterlichen Schützengilden. Bonn 1963, S. 312-14

42 Florian Seiffert: St. Sebastianus Schützenbruderschaft Köln-Flittard. Chronik, zitiert nach http://www.is-koeln.de/flittard/sebasti

43 Michaelis (Anm. 2), S. 67-77

44 George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt/Main 1976, S. 171, 181; Michaelis (Anm. 2), S. 78-88

45 ebd., S. 88